Zu wenig Ahnung, zu viel Meinung (Hormone, Psyche, Nichtbinarität, Fluidität, plurale Menschen)

Es gab einen Forenbeitrag, weil gefragt wurde, was denn Genderfluidität eigentlich sei. Gefragt hatte eine binäre, trans Frau (btF). Jene btF hat erhebliche Schwierigkeiten, andere als binäre Identitäten nachzuvollziehen.

Insbesondere als ich einen aktuellen Artikel des Queer-Lexikon für Beispiele anführte, war es mit dem Verständnis ganz vorbei. Die Antwort bestand aus u.a. folgenden Statements (paraphrasiert wg Anonymität):

  • Da brauchen aber welche dringend Therapie
  • Was die beschreiben ist entweder normal oder klingt nach psychischen Auffälligkeiten
  • Wer sich andauernd umentscheidet hat zu viele Ideen oder ADHS
  • Hormone wegen Dysphorie zu wollen ist unverantwortlich
  • „unter Umständen irreversible Veränderungen“
  • Solche Statements sollten entsprechend kommentiert werden, sonst macht das noch jemand nach
  • Es sollte immer professionelle Hilfe geben
  • Sich andauernd mit sich selbst zu beschäftigen ist doch krank, traumatisiert
  • Leute müssen vor sich beschützt werden, sonst machen sie Fehler und begehen Suizid

Das ist natürlich wirklich arg. Deshalb habe ich ausführlich geantwortet:


So sehr ich deinen Wunsch nach Fürsorge und fachlicher Unterstützung für trans Personen und Menschen mit psychischen Problemen schätze, schiesst du hier nach meiner Erfahrung(1) erheblich über das Ziel und die Realität hinaus.

Es erinnert mich ein wenig an einen Freund, studierter Mediziner aber nach dem praktischen Jahr in der Klinik abgebrochen. Er hatte viel gesehen und gelernt und war in BDSM Kreisen berüchtigt für seine Sicherheits-Regeln, mit einer sehr festen Meinung, was geht und was nicht – und zwar generell und für alle. Ein anderer Mediziner-Freund mit jahrelanger Berufspraxis kommentierte damals: „Er hat gelernt, woran Menschen alles sterben können, aber noch nicht die Erfahrung, was Menschen alles überleben“.

Also tl;dr es ist in der Praxis eigentlich nicht so dramatisch, wie du es dir offenbar ausmalst. Dafür ist häufig anderes schlimm.

Thema Hormone

Erst mal: Bei Hormonen kannst du rein körperlich-medizinisch fast nichts kaputt machen. Die Risiken für echten Schaden sind gering, ebenso die Quoten und treten idR langsam beginnend und nach Monaten oder Jahren falscher Medikation auf, und quasi nie bei den körperidentischen Hormonen in gängiger Dosierung.

Hint: Jeweils eine Hälfte der cis Bevölkerung lebt mit dem jeweiligen Hormon ziemlich gut. Das sind schon mal ca. 96% der Menschheit. Ca. 80-90% der trans Bevölkerung(2), ca. 1-3% absolut, wollen genau die „unter Umständen irreversiblen Veränderungen“. Die anderen wollen keine HET.

Ich kenne keine trans Person, siehe (1), die sich keine Gedanken gemacht hätte, was eine HET körperlich bewirkt. Im Gegenteil sind die meisten Fragen genau danach wann, was, wie viel. Zu den anderen Folgen weiter unten.

Den meisten Körpern ist es ziemlich egal, ob sie auf Estradiol oder Testosteron laufen. Die Hauptaufgaben bei Knochenbau, Blut, etc machen beide. Das bedeutet, dass eine transgeschlechtliche Hormonersatztherapie (tgHET) keine einmal-für-immer Entscheidung ist. Sie kann begonnen, moduliert, unter- oder abgebrochen werden.

Leider ist das medizinische Fachwissen zu tgHET ziemlich dünn. Die Sample für Studien sind klein, es gibt kaum Finanzierung und die Settings sind kaum vergleichbar. Noch dünner ist das Fachwissen bei den Ärztys. Auch bei den Endos. Es gibt wenige, die längere Erfahrung haben und noch weniger, die sich fortbilden.

Die meisten arbeiten einfach nach Leitlinie und Empfehlungen. Das bedeutet: Mach ne Baseline, starte mit diesen Medis (Hormon als Gel, ggf Blocker) und Dosierungen, geh nach dieser Referenztabelle, bis x ng/ml erreicht sind. Und das erst alle drei Monate, dann sechs und bei einigen sogar nur einmal pro Jahr.

Das führt regelmässig zu schlechter Betreuung. ZB zu viel Blocker und gerade im Beginn (Titrationsphase) zu wenig Estradiol. Folge: Depressive Schübe, Antriebslosigkeit etc. Und es gibt nicht wenige mit der Meinung, gerade bei transfemininen Personen die Östrogenlevel senken zu wollen. „Weil das bei cis Frauen ja auch so ist, mit der Menopause“. Das ist genauso völliger Unfug wie die „Pillenpause“.

Ach ja, die Bluttests. Die sind vor allem zur Absicherung. Zwei trans erfahrene Endos haben es mir so erklärt: Wir gehen hier eine jahrelange Verpflichtung ein. Im Leben kann alles mögliche aus allen möglichen Ursachen passieren. Die Kassen und Versicherungen gucken dann nach „Abweichungen“ vom Normal und versuchen Verantwortliche zu finden, die Schuld und Kosten übernehmen. Wenn ich die Tests nach Leitlinie mache, kann ich sagen „ich bin nicht schuld, ich hab alles nach aktuellen Vorgaben gemacht“. Funktioniert bei vielen anderen chronischen Patientys übrigens genauso.

Ansonsten kannst du nur feststellen, ob und wie viel von den Hormonen tatsächlich im Blut ankommt. Das ist aber bei „alle paar Monate“ nur ein Schnappschuss.

Fazit: tgHET ist kein Hexenwerk. Die gesundheitlichen Risiken sehr begrenzt. Die Profis haben häufig nicht mehr Ahnung als ihre Klientys und können bei individuellen Bedarfen keine angepasste Behandlung anbieten. Tatsächlich ist das Community-Wissen häufig besser und war schon etliche Mal nötig, um „Profis“ zum Update ihrer Vorgehensweise zu nötigen. Unzählige trans Personen fangen selbstbestimmt eine HET an, weil persönliche Umstände nicht zum System passen. Ich kenne viele. Allen geht es gut.

Thema Psyche

Gleichzeitig sind die emotionalen, seelischen und sozialen Folgen einer tgHET nicht zu unterschätzen. Aber auch dazu braucht es nicht unbedingt eine Therapie. Zumal – wie oben – nur die wenigsten Therapeutys wirklich Ahnung haben, wie es sich wirklich als trans lebt. Selbst wenn sie viele trans Personen auf ihrer Listen haben/hatten, sind sehr viele in cis, binären und hetero-orientierten Mustern verhaftet(3).

Trans zu sein ist keine Störung. Es lässt sich auch therapeutisch nicht beseitigen. Trans als Scheinausweg aus anderen psychologischen Gründen ist sehr selten und erledigt sich in der Regel innerhalb der eigenen Testphase. Lange bevor HET richtig einsetzt oder gar OPs passieren. Mal abgesehen davon, dass vor OPs zwingend psych. Indikationen stehen.

Der eigentliche Bedarf besteht in der Begleitung durch die Transition und im Ankommen in einem neuen Normal. Die Schwierigkeiten ist nicht trans zu sein, sondern mit der cis Umwelt und ihren Verständnismängeln für uns klar zu kommen.

Die wirkliche Begleitung findet deshalb zumeist in trans und peer Beratungen, SHGs und Online-Gruppen statt. Weil da Leute sind, die die Situationen wirklich kennen und nachvollziehen können. Siehe hier im Forum zB die Threads zum Thema „ich bin bis jetzt in einer hetero-Beziehung. Was wird da jetzt draus. Mein Partny ist doch hetero“. Auch „wann und wie oute ich mich auf der Arbeit?“, „Ab wann benutze ich die andere Toilette/Dusche?“, „dieser eine Mensch misgendert und deadnamed mich ständig“, usw. sind typische, wiederkehrende Themen überall.

Das hat aber alles nur begrenzt mit tgHET zu tun. Ein Therapiezwang ist daher ziemlich überflüssig. Aufklärung und Beratung sind prima, und informed consent nachweislich ausreichend.

Fazit: Trans Personen wissen in der Regel was sie wollen. Sie kennen normalerweise auch die Konsequenzen und stellen sich die richtigen Fragen. Leider haben die meisten „Profis“ weder die Kompetenz noch die Erfahrung und das Einfühlungsvermögen, diese Fragen qualifiziert zu beantworten. Das meiste Wissen ist in den Communities und Verbänden.

Thema Eigenverantwortung

Dann: Uns allen wird im normalen Leben ziemlich viel Eigenverantwortung zugetraut und abverlangt. Wohnung, Nahrung, Gesundheit und genug Geld, um das alles zu bezahlen. Wenn du dich nicht selbst kümmerst, tut es kaum wer anders. Es sei denn, du beeinträchtigst deren Leben. Dann wollen sie dich eher aus dem Weg haben.

Aber keinein wird dich zwangsbeschützen, wenn du einen Job annehmen willst, heiraten, ein Kind in die Welt setzen, deine Ersparnisse ausgeben, eine gefährliche Sportart machen, in der Fremdenlegion anheuern, in eine Sekte gehen oder ne Menge ungute Substanzen konsumieren.

Also warum sollte das ausgerechnet bei Menschen passieren, die eine andere Wahrnehmung von Geschlecht haben und ihr Leben deshalb anders origanisieren? Mit oder ohne HET oder anderen Massnahmen?

Woher käme das Recht dazu und wo ist der Unterschied zum früheren „Homosexuelle Menschen sind psychisch krank und müssen deshalb zwangstherapiert werden“?

Wir haben die Freiheit, auch „Dummheiten“ zu machen. Fehlentscheidungen zu treffen. Viele davon erzeugen „unter Umständen irreversible Veränderungen“; nicht nur körperlich. Diese Freiheit ist elementar wichtig für Artikel 2(1) GG: “ Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

In einer idealen Welt gäbe es zum einen leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Information und Aufklärung zu allen Themen im Vorfeld, und zum anderen ebenso leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Hilfe und Beratung, wenn was schief geht.

In der Realität gilt sowohl für seelische Probleme, als auch für TIN*, dass weder das Vorfeld noch die Krisen von „den Profis“ ausreichend abgedeckt wird. Der Großteil wird von ehrenamtlichen und Selbsthilfe geleistet, die häufig genug „die Profis“ auf den aktuellen Stand des Wissens und der best practices einnorden müssen.

Thema Umgang mit Vielfalt

Ich erlebe immer wieder, dass Menschen anderer Leute (Selbst)Wahrnehmung sofort und ausschliesslich auf sich anwenden, ihre eigene begrenzte Weltsicht und internen Bewertungen, und reflexartig entscheiden „oh wie schlimm, da muss eins doch was gegen tun“. Nein. Die hauptsächliche Frage ist, ob und wie die Person mit sich klar kommt. Geht es ihr gut bzw sogar besser oder empfindet sie einen Leidensdruck? (DSM: B-Kriterien)

Gute Therapeutys lernen ziemlich früh, ihren Behandlungsauftrag zu definieren. Erste Frage: Habe ich überhaupt einen? Hat die Person mich explizit gebeten, mich mit ihr und dem Thema zu beschäftigen? Nächste Frage: Was möchte diese Person verändern und habe ich möglicherweise geeignete Vorschläge und Methoden anzubieten?

Alles andere ist übergriffig und unprofessionell. Sogar möglicherweise ein Behandlungsfehler. Auch wenn es in den Fingern juckt und es doch – nach den eigenen Vorstellungen – da diese behandlungsbedürftige Baustelle gibt und so und so viel besser wäre.

Wir sollten dieses Prinzip mMn auch als nicht-Profis anwenden. Menschen sind ungeheuer vielfältig und haben unglaublich vielfältige und persönliche Weisen, mit ihrer Biografie, ihrer Umgebung und sich selbst klar zu kommen. Infinite Diversity in Infinite Combinations. Wir können ein- oder zweimal einen Vorschlag machen oder Beispiel geben, aber einmischen, unverlangte Diagnosen stellen oder Therapiebedürftigkeit zu attestieren, ohne die Menschen genau zu kennen und ohne gefragt worden zu sein ist, wie gesagt, übergriffig. Auch als nicht-Profi.

Wenn wir etwas nicht so richtig verstehen, steht vor der Beurteilung die Pflicht zur Selbstaufklärung. Bis das Thema ausreichend verstanden ist mit Fakten, Hintergründen, Motiven und erlebter Realität. Also erst mal eine Menge Fragen.

Manchmal stellen wir fest, dass bestimmte Konzepte auch nach vielen Fragen einfach ausserhalb unseres Horizonts bleiben. Geht mir mit der Stringtheorie so. Ich weiss nur, dass es sie gibt und ein paar Faktensplitter. Da enthalte ich mich jeglicher Meinung und stelle höchstens ein paar Fragen.

Manche Dinge sind so komplex und veränderlich, dass es unglaubliche viel Zeit und Aufwand braucht, sie qualifiziert zu erschliessen. Geht mir mit „dem Nah-Ost-Konflikt“ so. Das lasse ich an mir vorbei gehen. Ich muss keine Meinung haben und es ist mir den Aufwand nicht wert, mich so aufzuschlauen, dass ich tatsächlich mitreden könnte. Kurzgeschlossene Stammtischmeinunngen sind aber mE von übel.

Manches können wir verstehen, nachvollziehen, emulieren, auch wenn wir es innerlich nicht nachfühlen können; höchstens mit Analogien. Geht mir mit Religiosität so – und mit (binärem) Geschlechtsempfinden. Hier kann ich sachlich diskutieren, weil ich viel Zeugs gelesen habe. Hier traue ich mir eine Meinung zu, soweit mich das Thema persönlich betrifft. Den emotionalen Teil, den ich nicht nachempfinden kann, lasse ich bei den anderen. Ich kann ihn für sie wertschätzen, aber jedes Urteil meinerseits wäre unangebracht.

In Kurzform: Äussere dich nur zu dem, was du wirklich verstehst und zwar auf dem Level deines Verständnisses. Ansonsten höchstens Fragen, Offenheit und Lernbereitschaft.

Thema Gendefluidität und andere Formen von Nichtbinarität

Es gibt unzählige Versuche, Geschlechtsidentitäten zu systematisieren. Das einfachste ist noch das Gender Unicorn oder auch die Gender Bread Person. Die können zum Beispiel schon mal die Unterscheidung zwischen Identität, Präsentation, körperlichem und Amtsgeschlecht. Abgegrenzt von der sexuellen und romantischen Orientierung.

Das ist aber für einige Menschen nicht ausreichend. Allein die Frage, ob, wie und was überhaupt Menschen als „Geschlecht“ empfinden ist unglaublich komplex. Es spielt interne und externe Körperwahrnehmung rein, emotionale Grundstimmung, situationsabhängiges Verhalten, erlernte und erlebte Muster und die mit ihnen verknüpften positiven und negativen Gefühle, und das alles komplex verwoben mit gesellschaftlichen Konventionen, die alles und alle binär vergeschlechtlichen.

Geschlecht als nur männlich oder nur weiblich ist vollkommen unzureichend für Menschen, die sich nicht eindeutig dem einen oder anderen zuordnen können. Natürlich beschäftigen sie sich dann damit, denn alles, was emotional nicht passt bzw unzufrieden macht, wird dadurch immens wichtig. Geschlecht, Job, Familie, Beziehung, Sex.

Es ist vergleichsweise sehr einfach, in einem binären Geschlecht zu leben, trans oder nicht. Die Welt ist darauf eingerichtet, du kannst dich darin bewegen wie ein Fisch im Wasser. Es gibt unzählige Vorbilder und Vorgaben, Alltagsrituale, Strukturen und Räume, die entsprechend gelabelt sind. Die trans Hauptfrage ist, ab wann du dich traust, die andere zu benutzen und ob das klappt.

Wenn aber beim besten Willen weder das eine noch das andere passt, dann bist du erst mal auf dich selbst geworfen, dich zu beobachten, zu finden, irgendwie zu positionieren. Sprich: Im Gegensatz zu gender-binären Personen müssen wir nichtbinären an dieser Stelle sehr viel stärker über uns nachdenken. Deshalb kommen wir auch zu vielen individuellen Erkenntnissen, die binäre Menschen gar nicht benötigen.

Einige stellen fest, dass die geschlechtliche Empfindung zwischen und_oder ausserhalb von männlich und weiblich fluktuiert; genderfluid. Einige bemerken, dass die Intensität stark schwankt, also auch die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung; genderflux. Einige finden keinen Bezug zu männlich/weiblich sondern verknüpfen ihr Gender anderswo. Zum Beispiel autigender, weil ihr neurodiverses Gehirn die Welt ganz anders wahrnimmt.

Diese Wahrnehmungen sind erst mal valide, Punkt. Es ist die ihnen bestmögliche Beschreibung dessen, was ihnen die Welt als geschlechtliche Positionierung abverlangt. Wenn cis und_oder binäre Menschen damit nichts anfangen können: Deren Problem. Deshalb sind sie noch lange nicht pathologisch oder Folge irgendwelcher behandlungsbedürftiger Störungen.

Binäre Geschlechtsidentität ist ja nun auch nicht besser erklärbar. Nur häufiger und vor allem weniger hinterfragt. Aber bisher ist noch jedes Gespräch ausgehend von der Frage „wie stellst du denn fest, dass du [dein Gender] bist?“ über biologisches und Stereotypen schlussendlich bei „ich weiss das eben“ gelandet. Also bitte nicht so überheblich.

Wer es nicht nachvollziehen kann: Es gibt Lesestoff und Möglichkeiten zu fragen. Aber Be- und Verurteilungen dürfen wir uns verbitten.

Thema plurale Menschen

Ganz wichtig: Genderfluidität und Pluralität haben erst mal nichts miteinander zu tun. Zwei ganz verschiedene Konzepte, die zufällig gemeinsam auftreten können.

Ich kenne ein paar Systeme. Also mehrere Persönlichkeiten, die sich einen Kopf und Körper teilen. Und klar, der erste Impuls ist Schizophrenie, multiple bzw dissoziative Persönlichkeitsstörung, usw.

Zum einen: In von westlicher Psychologie der Neuzeit unbelasteten Gesellschaften wird/wurde das teilweise ganz anders betrachtet. Nicht als Problem, sondern als Gabe und Bereicherung. Das macht das Leben dieser Systeme erstaunlich viel einfacher, wer hätte das gedacht *SarkasmusFähnchen*.

Heisst: Nicht alle Systeme sind behandlungsbedürftig und vor allem ist nicht „Integration“ oder die Fabrikation einer Mono-Persönlichkeit automatisch das Ziel. Erfreulicherweise kommt die aktuelle Psychologie da langsam an. Die Hauptaufgabe ist auch hier wieder Klarkommen mit sich und der Aussenwelt.

Die praktischen Fragen mal beiseite gelassen, sind Systeme faszinierend vielfältig, weil sie in vielen Aspekten variieren können. Geschlechtlich sowieso. Auch in der Orientierung. Sogar körperlich. Es gibt Berichte über Unverträglichkeiten und variable Sehstärke. Unterschiedliche Handschrift und Sprache (im Sinne von Wortwahl, Stil, Stimme, Betonung) sind häufig.

Ja, bei vielen können Traumata in der Vergangenheit gefunden werden. Aber weder sind die zwangsläufig vorhanden, noch zwangsläufig ursächlich.

Die Persönlichkeiten können sich auch „einfach so“ entwickeln. Es ist einfach etwas stärker und etwas mehr voneinander getrennt, als bei uns Monopersonen (=scheinbar nur eine Persönlichkeit). Aber wir haben auch häufig im Job, in der Familie, im Verein, im Urlaub ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, Gefühlslagen, Auftreten usw. Viele von uns entwickeln Persönlichkeits-(An)Teile, die stark unterschiedlich und sogar widersprüchlich sind, also eigentlich schon Systeme. Nur eben nicht so ausgeprägt.

Viele von uns (Monos) reagieren reflexartig mit Anteilen, die uns gar nicht so angenehm sind, sondern Verhaltensmuster, die irgendwann mal nützlich und sinnvoll waren, heute aber eher nicht mehr. So verschieden ist das gar nicht.

Natürlich haben etliche Systeme ganz typische Probleme. Immerhin ist das eine Ein-Körper-WG, aus der eins nicht ausziehen kann. Auch eine Ein-Hirn-WG, was bedeutet, dass manchmal Persönlichkeiten nicht mitkriegen, was andere tun, denken, wollen.

Das sind aber praktische Probleme, die auch praktisch gelöst werden können. Systeme haben nicht zwangsläufig einen Leidensdruck oder wollen Teile von ihnen loswerden. Vielfach erfüllen einige auch Aufgaben, die andere oder eine „intergrierte“ Persönlichkeit nicht könnten. Oder sie bieten Empfindungen, die nur innerhalb dieser Persönlichkeit möglich sind.

Kurz: Systeme können sich als bereichert empfinden. Auch wenn es uns Monos schwer fällt, das nachzuvollziehen. Heck, ich hab schon Schwierigkeiten eine physische WG als Bereicherung zu empfinden! Aber das ist unser Problem. Nicht per se behandlungsbedürftig.


Gesamt-tl;dr: Nicht so voreilig mit Diagnosen und Behandlungsbedarf. Nicht so übergriffig mit Ratschlägen und Meinungen. Auch wenn die eigenen Erlebnisse belasten und eins andere schützen und bewahren möchte. Die meisten Menschen wissen, was sie wollen und brauchen. Und wenn nicht, dann sind sie in der Regel auf der Suche und brauchen keine Bevormundung. Die meisten Probleme sind nicht so dramatisch, wie sie aussehen. Und die meisten Lösungen sind nicht so einfach, wie sie scheinen.


(1) Disclaimer: Meine Erfahrung beruht auf Beratung und Moderation, die ich in mehreren SHG für trans und nichtbinäre Menschen mache, ausserdem in Online-Selbsthilfeforen. Ich habe etliche Menschen in der Transition begleitet, die von einer dreistelligen Zahl beobachtet und bin in einigen Fachgruppen zu trans Themen. Ausserdem lese ich unheimlich gerne Studien und Fachbücher zum Thema.

(2) Zwei Drittel der trans Bevölkerung sieht sich binär trans. Die meisten möchten eine HET wenigstens beginnen und dann sehen. Ein Drittel ist nichtbinär, da wird häufig sehr lange gehadert, welche Effekte eins eigentlich will und braucht und ob und wie das hormonell oder anders geht.

(3) Ich habe ein paar Konferenzen für Therapeutys erlebt, und selbst bei den speziell auf TIN* ausgerichteten war das Level der „Profis“ an Unverständnis, Vorurteilen und auf cis/bin/het basierenden Projektionen in der Regeln unglaublich fern von der Realität ihrer Klientys.

Selbstbestimmungsgesetz nutzen: Die Konsequenzen

Eine Übersicht für alle, aber insbsondere für cis Menschen, die sich gar nicht auskennen.

Mit dem Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) können alle(1) Menschen ihren amtlichen Geschlechtseintrag und Vornamen durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern lassen.

Einige Menschen möchten das SBGG vielleicht nutzen, um ihre ungeliebten Vornamen zu ändern. Andere spielen mit dem Gedanken, „einfach so“ ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Rein praktisch ist das wohl möglich.

Aber!

Ich empfehle stark, sich vorher gut mit den Nebenbedingungen und Konsequenzen zu befassen. Einige habe ich im folgenden aufgelistet. Die Liste ist bestimmt nicht vollständig.

Bedenke: Trans, inter und_oder nichtbinäre Menschen nehmen diese Dinge in Kauf, weil dies für sie trotz all dieser Konsequenzen immer noch besser ist, als die alte amtliche Identität weiter auszuhalten.

#0 Die Erklärung, dass der bisherige Geschlechtseintrag nicht der persönlichen Identität entspricht.
Dies muss „versichert“ werden und kommt einem Eid nahe. Klingt ein bisschen banal, aber Ämter verstehen bei sowas keinen Spass. Deshalb wird bei der Erklärung auch eine Prozedur wie beim Kauf eines Hauses abgehalten; mit vorlesen der Erklärung, Nachfrage, ob das alles verstanden wurde und korrekt ist und dann der Unterschrift. Ab Unterschrift ist das dann für mindestens ein Jahr fest, währenddessen die Änderung durch alle Behörden weitergereicht wird.

#1 Mit dem Eintrag müssen auch die Vornamen neu bestimmt werden.
Laut SBGG sollen sie zum neuen Geschlechtseintrag „passen“. Wer zB auf „weiblich“ ändert muss „weibliche“ Vornamen wählen. Selbst für „divers“ und „ohne Eintrag“ sollen die Namen „irgendwie geschlechtsneutral“ sein(2).
Die wenigsten Menschen werden daher bei einem Wechsel ihre Namen behalten können.
Denke dran, dass du mit der Zeit überall unter deinen neuen Namen geführt werden wirst, wo auch nur entfernt Behörden o.ä. beteiligt sind, oder du dich mit Perso o.ä. identifizieren musst (sogar Post, DHL, usw).

#2 Alle Ausweise und Dokumente sind ab sofort ungültig.
Perso, Führerschein, Reisepass, Bankkonten, Bahncard, usw. Alles, was die offizielle Identität enthält. Dein alter Name existiert amtlich nicht mehr und jede Überprüfung kann Probleme erzeugen. Je länger nach der Änderung, desto mehr(3).
Jede Unstimmigkeit zwischen früherer und neuer Identität erzeugt Diskussionen, benötigt Erklärungen, Nachweise, Zeit und Probleme.
Zum Beispiel bei Polizeikontrollen: Die Abfrage deines alten Perso kann fehlschlagen, als ob er gefälscht wäre. Einen (inzwischen) ungültigen Perso zu benutzen ist eine Ordnungswidrigkeit mit Bussgeld.
Dein Deutschland-Ticket, Monatskarte, etc sind personalisiert. Mit neuem Perso müssen die auch geändert werden.
Banken und die Finanzaufsicht verstehen keinen Spass bei den Kontodaten: Geldwäschegesetz. Kontostammdaten und alle Karten müssen daher so schnell wie möglich erneuert werden.
Es kommt immer wieder vor, dass Kassenpersonal den Namen auf der Karte liest und der Ansicht ist, dass diese Karte nicht dir gehören kann – weil ihrer Ansicht nach Name und Aussehen nicht zusammenpassen. Dann brauchst du auf jeden Fall einen gültigen Perso.
Deine Zeugnisse passen auch nicht mehr zum neuen Namen. Falls du sie noch mal brauchst, zum Beispiel für Bewerbungen, solltest du sie umschreiben lassen.

#3 Outing in Job und Firma – und die Rentenversicherung.
Deine Firma überweist Steuern und Beiträge an Renten-, Kranken-, und Arbeitslosenversicherung. Dabei muss der gültige amtliche Name verwendet werden – und der Geschlechtseintrag dient vielfach als Prüfmerkmal. Die Personalabteilung deiner Firma muss deshalb den Namen offiziell ändern.
Weil Firmen häufig nur einen Namen pro Person pflegen können, heisst das in der Regel auch: Neue Mailadresse, usw. Stelle dich auf ein ziemliches Durcheinander in der Übergangszeit ein.
Falls dein alter oder neuer Eintrag „männlich“ war/ist, bekommst du von der Rentenversicherung automatisch eine neue Nummer, die deine Firma auch erfahren muss.

#4 Krankenkasse und Gesundheitssystem.
Als Arbeitnehmer*in musst du deine Kasse über den neuen Namen (und Geschlechtseintrag) informieren, sonst gibt es irgendwann Probleme mit den Beiträgen. Du bekommt eine neue Karte – die wiederum zu deinem Perso passen sollte.
Auf der Karte steht dein neuer Geschlechtseintrag. In Praxen und Kliniken wird der häufig für die Anrede und die Einsortierung auf Stationen verwendet. Praxis- und Labor-EDV nimmt den Eintrag häufig für Referenztabellen, ob Blutwerte okay sind.
Mit einem „X“ für „divers“ oder „ohne Eintrag“ bist du quasi überall Sonderfall.
Mit dem Geschlechtseintrag ändern sich auch die Einladungen zu geschlechtsabhängigen Vorsorgeuntersuchungen. Leistungen, die für dein amtliches Geschlecht „nicht vorgesehen“ sind, must du einzeln einfordern. Trans Personen schlagen sich regelmässig mit dem Medizinischen Dienst und von ihm angeforderten Gutachten herum.

#5 Fahrzeuge und (Grund)Eigentum.
Eigentum an Fahrzeugen („Brief“) oder Wohnung, Haus, Grundstück, etc. hängt an der amtlichen Identität und müssen also alle umgeschrieben werden. Gerade bei Immobilien guckt der Staat wegen Geldwäsche u.ä. besonders gut hin.
Falls du dein Auto offiziell verkaufen möchtest, wird zB ein Autohaus Kfz-Brief und Perso prüfen, ob es tatsächlich dir gehört.

#6 Reisen, Reisepass.
Der neue Reisepass enthält – als so ziemlich einziges amtliches Dokument – deinen neuen Geschlechtseintrag. Dies kann bei der „Sichtkontrolle“ an fremden Grenzen zu Irritationen führen, wenn dein Aussehen für die Amtsperson nicht „passt“. Mögliche Folge: Detaillierte Personenkontrolle und damit unkalkulierbare Wartezeiten an Grenzen oder Flughäfen.
Mit dem alten Pass zu reisen kann gefährlich sein, wenn an der Grenze die Identität elektronisch abgefragt wird. Übrigens auch, wenn innerhalb des Schengenraums der (alte) Perso im Ausland überprüft wird.
Insbesondere trans- und queer-unfreundliche Länder (Russland, Ungarn, Türkei, „naher Osten“) können sehr unangenehm werden, wenn eine Person laut Pass „nach trans aussieht“ oder gar ein „X“ im Pass hat (bei „divers“ oder „ohne Eintrag“).
Mit einem „X“ kannst du einige Länder nicht mehr bereisen. Vor allem die Emirate (Dubai, Katar) und Saudi Arabien verbieten ausdrücklich die Einreise mit „X“. Auch Transit / Umstieg dort ist nicht möglich.
Bei anderen Ländern wie Indonesien, Ägypten, südliches Afrika, etc gibt es bisher keine offizielle Aussagen. Viele Länder sind jedoch auf das „X“ nicht vorbereitet. Wie Grenzübertritte und Kontrollen dort ablaufen ist deshalb offen.

#7 Ehe und Elternschaft.
Falls du verheiratet/verpartnert bist, wird das zuständige Standesamt automatisch informiert. Deine bisherigen Urkunden und Stammbücher sind damit obsolet.
Falls du Kinder hast, passen deine neuen Papiere nicht mehr zu deren Geburtsurkunden. Dies kann u.U. Probleme mit Schulen o.ä. erzeugen. Informiere dich am besten vorher bei trans-erfahrenen Beratungstellen, ob du auch da etwas umschreiben möchtest.

#8 Für Menschen, die nicht trans und_oder nichtbinär sind: Was alles nicht funktioniert.
Auch wenn du amtlichen Geschlechtseintrag, Vornamen und alle Papiere geändert hast, deine Firma informiert, alle Verträge angepasst: Im zwischenmenschlichen Alltag wird sich dadurch praktisch nichts ändern. Die allermeisten Menschen haben ihren amtlichen Geschlechtseintrag noch nie „beweisen“ müssen und könnten das auch gar nicht.
Stattdessen werden wir alle ständig „nach Aussehen“ einsortiert und behandelt.
Von dieser Einschätzung und der Einstellung der Leute auf die du triffst wird abhängen, ob du in geschlechtergetrennten Räumen akzeptiert oder rausgeworfen wirst.
Dein amtlicher Eintrag, deine neuen Namen und auch deine neuen Papiere werden dir im Zweifelsfall nicht helfen.

Solltest du also vorhaben, das SBGG „einfach so“ zu nutzen, ist mein Tipp: Lass es. Du machst dir selbst viel Arbeit; es wird dich Zeit, Geld und Nerven kosten, und wenn du es nicht wirklich ernst meinst, wirst du dich letztlich als ein Mensch outen, der sich das ganze wirklich nicht gut überlegt hat.


(1) Alle Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, „Blauer“ EU-Karte oder unbefristetem Aufenthaltstitel. Minderjährige ab 14 und Menschen unter Betreuung mit Zustimmung der Sorgeberechtigten.

(2) Die Praxis ist hier noch nicht ganz klar. Im Gesetz steht dazu nichts genaues, es gibt noch keine Fälle oder Urteile, nur geäusserte Rechtsauffassungen einzelner Verwaltungsstellen, die jedoch keine Weisungskraft haben. Der ausdrückliche Zusammenhang zwischen Eintrag und vermeintlich geschlechtlichem Namen war bisher nicht gegeben, bzw seit dem „Kiran“-Beschluss des BVerfG 2009 quasi aufgehoben. Für nichtbinäre Namen gab und gibt es bisher gar keine Grundlagen.

(3) Der alte Name ist ungültig und damit auch der alte Perso. Eine polizeiliche Abfrage mit dem alten Perso führt zu einem Fehler. Das Standesamt gibt die Änderung automatisch an die Meldebehörde am Wohnort. Die informiert dann das Bundesamt für Steuern, Rentenversicherung, Kraftfahrtbundesamt („Flensburg“), Bundeszentralregister („Führungszeugnis“), usw. Von da aus verbreitet sich die Änderung langsam durch alle Behörden.

Minimaler Anmeldebrief für §2 SBGG

(Stand 2. August 2024)

Viele Standesämter bieten bereits Formulare für die Anmeldung der Erklärung gemäss Selbstbestimmungsgesetz an. In vielen werden Informationen abgefragt, die für die Anmeldung gesetzlich gar nicht notwendig sind, wie zum Beispiel aktueller und_oder Geschlechtseintrag, neue Vornamen, usw.

Teilweise wird die Annahme der Anmeldung verweigert, weil zum Beispiel die neuen Vornamen beanstandet werden. Insbesondere die aktuell noch ungeklärte Frage der Anzahl der Vornamen ist wohl ständiges Thema.

Es wurden auch Anmeldungen verweigert, obwohl das betreffende Amt gar nicht das Geburtsstandesamt ist, also lediglich beglaubigen und weiterleiten muss und gar keine Entscheidungen treffen darf.

Ich habe eine Minimalversion einer Anmeldung erstellt, die ich hier zur freien Verwendung und Veränderung zur Verfügung stelle (CC0).

Es ist leider wahrscheinlich, dass das Amt sich danach meldet und irgendwas weiteres wissen will. Das kann/sollte dann ggf abgebügelt und auf den Termin der Erklärung vertagt werden.

Wer mag kann eine Persokopie beilegen und_oder eine Kopie der letzten Geburtsurkunde, falls nicht im Geburtsstandesamt erklärt wird. Das erleichtert denen die Zuordnung.

Bei Verheirateten oder Lebensverpartnerten sollte Datum und Ort der Ehe-/Partnerschaftsschliessung angegeben werden (ggf Kopie der Urkunde). Spätestens bei der Erklärung wird die offizielle Urkunde gebraucht, weil das Geburtsstandesamt die Änderung auch an das Eheregister weitergibt (das womöglich woanders ist).

Das hab ich auch erst nicht verstanden, ist aber sinnvoll, weil das Amt, das die Ehe/Partnerschaft registriert, ja in Zukunft auch keine veraltete Auskunft (Vornamen!) geben darf. Sonst würden sie ja gegen das Offenbarungsverbot verstossen 🙂

Analyse des BSG Urteils „Mastektomie für nichtbinäre Person“

Das Bundessozialgericht hat die schriftliche Urteilsbegründung zum Verfahren B 1 KR 16/22 R veröffentlicht. Eine nichtbinäre Person wollte die Kosten für eine Mastektomie von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet bekommen. Dies wurde letztinstanzlich angelehnt. Die Begründung hat es in sich, weil sie im Endeffekt ab sofort jegliche Kostenübernahme-Bewilligungen für alle Transitionsmaßnahmen stoppt.

Das wird jetzt ein sehr langer Beitrag, deshalb hier der tl;dr, wie ich das Urteil lese:

Laut dem Urteil dürfen die Kassen eigentlich seit ca. 2019 schon keine Transitionsmassnahmen mehr bezahlen, weil sich ab da die gesamte trans Behandlungsmethodik geändert hat! Seit Erscheinen der S3-Leitlinie, nach der Ärztys arbeiten müssen. Also die Medizin hat sich modernisiert. D.h. die heutige Vorgehensweise, aus der die Indikationen und Gutachten kommen, ist vom GBA nicht abgesegnet. Und was der GBA nicht erlaubt hat, dürfen Kassen nicht bezahlen.

Das alte (GBA-erlaubte) Behandlungsmodell war: „(binärer) Transsexualismus = Krankheit = binäre Totalbehandlung“. Die S3-Leitlinie hingegen geht von Geschlechtsdysphorie als Variante der geschlechtlichen Entwicklung aus, bezieht nichtbinäre Varianten mit ein und guckt auf einzelnen Leidensdruck und die Abhilfe durch die in der Leitlinie gelisteten Massnahmen. Das alles nach Einschätzung der jeweiligen Fachärztys zusammen mit der betroffenen Person. Weg von einer binären Körpernorm, hin zum Individuum und seinen konkreten Bedarfen. Weg von einer einmaligen Diagnose („ist trans“), hin zu einer selbstbestimmten geschlechtlichen Identität und körperlichem Ausdruck.

Diese Umwälzung in der medzinischen Praxis ist offenbar noch nie so thematisiert worden im Zusammenhang mit der Bewilligung, aber vielleicht gilt da wo keine Klage, da kein Urteil. Vielleicht hat das BSG damit sogar die Begutachtungsanleitung(pdf) der Kassen (MDS) gekillt, die sich nämlich auf die S3-LL bezieht, wenn auch unzureichend und verfälschend.

Ich zitere mal die für uns alle relevanten Stellen aus der Urteils-Begründung(pdf) und kommentiere, wie ich die Abschnitte deute (IANAL). Die ganzen Paragraphen im Text sind zwecks Lesbarkeit weggelassen.

(17) Das BSG hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zu geschlechtsangleichenden Operationen bei Transsexualismus eine behandlungsbedürftige psychische Krankheit angenommen. Voraussetzung dafür war, dass psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis zwischen dem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit einem anderen Geschlecht nicht zu lindern und zu beseitigen vermögen.
Der Senat hat sich dabei ua darauf gestützt, dass die Rechtsordnung den sog Transsexualismus nicht nur personenstandsrechtlich, sondern auch als behandlungsbedürftige Krankheit anerkennt. Der Gesetzgeber hatte bereits durch Schaffung des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz ) bestätigt, dass der Befund des Transsexualismus eine außergewöhnliche rechtliche Bewertung rechtfertigt.

Weiter hat sich der Senat auf die ausdrückliche Nennung des „Transsexualismus“ in (§… SGB V) zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung gestützt.

Heisst: Der Gesetzgeber hatte das Schema „Transsexualismus“ = Krankheit definiert und zwar binär. Das war die quasi zwangsläufige Grundlage für den GBA, die Bezahlung der Maßnahmen zu erlauben. (Aber nur nach dem bisherigen binären Schema)

(18) Der Senat hält hieran nicht mehr fest.

Heisst: Diese Grundlage ist nicht mehr gültig. Die komplette bisherige (binäre oder andere) Grundlage. Damit entfällt die bisherige Erlaubnis. Die Erklärung folgt:

Der Rechtsprechung des Senats zu Operationen an gesunden Organen ausschließlich zur Angleichung an das weibliche oder das männliche Geschlecht (vgl RdNr 16) steht einerseits die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Personenstandsrecht entgegen.
Danach ist auch die geschlechtliche Identität von Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art 2) sowie dem Diskriminierungsverbot (Art 3) geschützt.

Erstens: Jede GBA-Regelung muss wg Grundgesetz und Dritte Option etc auch nichtbinäre Personen berücksichtigen, sonst wäre sie ziemlich sicher verfassungswidrig.

Andererseits spricht viel dafür, dass die bislang angenommene Beschränkung auf zwei biologische Geschlechter im binären System nicht mehr dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht.
Dies legt jedenfalls die aktuelle S3-Leitlinie … nahe (im Folgenden S3-Leitlinie).
Die S3-Leitlinie richtet sich ausdrücklich gleichermaßen an die medizinische Versorgung von Personen mit einer weiblichen, männlichen oder non-binären Geschlechtsidentität und verweist auf die im Mai 2013 veröffentlichte 5. Fassung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5), die neben dem traditionellen Begriff des „Gegengeschlechts“ weitere Geschlechtsformen („alternative gender“) in die Diagnostik einer Geschlechtsdysphorie einschließt (S3-Leitlinie S 6, 10).
Die S3-Leitlinie geht davon aus, dass eine Transidentität bzw Geschlechtsinkongruenz, bei der das eigene Geschlechtsempfinden nachhaltig in Widerspruch zu dem nach den Geschlechtsmerkmalen zugeordneten Geschlecht steht, an sich keine „Krankheit“ in Form eines behandlungsbedürftigen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes darstellt. Sie sieht für die Bestimmung des Umfangs der erforderlichen Behandlung aber den durch die Geschlechtsinkongruenz begründeten, klinisch-relevanten Leidensdruck als maßgeblich an.

Zweitens: Die S3-LL, der Goldstandard des aktuellen Konsens der med. Fachgesellschaften, wie trans Personen behandelt werden sollten, funktioniert vollkommen anders als das vorherige Modell (Krankheit, binär angleichen, fertig).

(20) 2. Bei der Diagnose und Behandlung eines durch Geschlechtsinkongruenz verursachten Leidensdrucks handelt es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, die dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nach § 135 SGB V unterfällt.

Dieses neue Modell von Geschlechtsdysphorie (vs (altem) ‚Transsexualismus‘) muss, weil anders, vom GBA genehmigt werden, damit die Kassen es bezahlen dürfen.

Das wird dann in Nummern 21-27 erklärt, läuft auf meinen obigen Tenor hinaus.

Hier die Beschereibung des methodisch neuen Kerns:

(28) Der Senat geht dabei davon aus, dass die ärztliche Praxis sich an dem in der aktuellen S3-Leitlinie zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisstand orientiert, der einem theoretischwissenschaftlichen Konzept folgt, das die systematische Anwendung bestimmter auf den Patienten einwirkender Prozessschritte (Wirkprinzip) zur Erreichung eines diagnostischen oder therapeutischen Ziels in einer spezifischen Indikation (Anwendungsgebiet) wissenschaftlich nachvollziehbar erklärt.
Aufgrund der aufgezeigten geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen und der neueren medizinischen Bewertungen, wie sie insbesondere in der S3-Leitlinie beschrieben sind, kann die Behandlung nicht mehr ausschließlich an normativ vorgegebenen Phänotypen (männlich/weiblich) ausgerichtet werden.
Die bisherige BSG-Rechtsprechung zu sog Transsexuellen basierte aber auf den klar abgrenzbaren Phänotypen des weiblichen und männlichen Geschlechts – anknüpfend an die darauf basierenden gesetzlichen Regelungen im TSG und in §116b SGB V zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung.
Die jeweilige Behandlung (Frau-zu-Mann-Transformation und Mann-zu-Frau-Transformation) war damit der Bewertung anhand eines objektiven Maßstabs zugänglich.

Zu beachten: Die Entscheidungen von Fachärztys / Gutachtenden sollen „objektiv“ nachprüfbar sein. Schwierig. Wie lässt sich Dysphorie messen?

(29) Die Diagnostik und Behandlung von durch Geschlechtsinkongruenzen jedweder Art verursachtem Leidensdruck stellen deshalb zwangsläufig auch eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar.

Peng. Deren Ansicht. Und weiter:

Die aktuelle wissenschaftliche Bewertung, wie sie insbesondere in der S3-Leitlinie referiert wird, bezieht die Vielfalt aller – auch non-binärer – Geschlechtsidentitäten ein, ohne dass auf einen normativ vorgegebenen Phänotyp, der mit der Behandlung angestrebt werden soll, zurückgegriffen werden könnte. Stattdessen müssen sowohl die Geschlechtsinkongruenz individuell festgestellt, als auch das darauf aufbauende Behandlungskonzept und das jeweilige Behandlungsziel unter Berücksichtigung des bestehenden Leidensdrucks (siehe oben Rd-Nr 18) individuell festgelegt werden.

[Beschreibung des partizipativen Ansatz und Konzentration auf einzelnen Leidensdruck]

Dies beschreibt ein Konzept, das Patient und Arzt nicht nur gleichberechtigt in die Diagnosestellung und Behandlung einbindet, sondern darüber hinaus der behandlungsbedürftigen Person eine Schlüsselrolle dahingehend zuweist, dass diese in Ermangelung objektiver Kriterien zwingend zunächst selbst die Feststellung der Inkongruenz vorzunehmen hat. Schon deswegen weicht das Konzept methodisch von anderen Behandlungsverfahren ab. Die Kriterien für die medizinische Notwendigkeit einer geschlechtsangleichenden Operation sind danach nicht nach objektiven – einem Sachverständigengutachten zugänglichen – Maßstab vorgegeben. Vielmehr wird Behandler und Patient ein gemeinsamer Entscheidungsspielraum zugestanden.

Heisst: Die S3-LL ist schuld, dass es keine Orientierung an binären Norm-Ziel-Körperlichkeiten mehr gibt, bzw dies nicht mehr als med. adäquat angesehen wird.

(32) … Der therapeutische Prozess zur Entwicklung des gewünschten Behandlungsziels ist den Einzelmaßnahmen (zB Hormonbehandlung, Epilation, Logopädie, Phonochirurgie, Adamsapfelkorrektur, Perücken und andere Hilfsmittel, Genitaloperationen oder eben Brustoperationen) konzeptionell vorgeschaltet. Zentraler Ausgangspunkt ist das Behandlungskonzept als Ganzes, aus dem sich die Indikation für einzelne Maßnahmen ableitet. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die chirurgische Umsetzung der im Hinblick auf das Behandlungsziel geplanten Eingriffe für sich betrachtet (hier: die isoliert betrachtete Mastektomie) bereits dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht.

(33) c) Eine danach erforderliche Richtlinie des GBA nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V liegt (bislang) nicht vor, so dass die Beklagte die hier streitige Leistung für die klagende Person nicht erbringen durfte.

Heisst: Die einzelne Maßnahme (hier Mastektomie, dort vielleicht eine GaOP) ist unerheblich, auch ob bereits binäre Transitionen so durchgeführt wurden. Der med. Standard bzw. auch die Praxis der Ärztys hat sich geändert (die müssen sich nämlich dran halten) und für diese reale praktizierte Medizin (Therapiekonzept) gibt es aktuell keine Richtlinie aka Erlaubnis des GBA.

Das ist leider alles durchaus schlüssig, solange eins davon ausgeht, dass die Fachärztys bei der Diagnose und Indikation tatsächlich anders agieren als vor der S3-LL.

Nebenaspekt: Es wird angesprochen, dass die Fachärztys ggf zu viel Entscheidungsmacht haben, bzw sogar die Patientys, wegen der Partizipation und die Kassen, bzw MDK keine „objektive“ Kontrollmöglichkeiten haben. Wenn Ziel nicht mehr ein binärer Minimal-Normkörper ist, sondern immer (auch binär) methodisch die nicht wirklich ertestbare Dysphorie, kann keinein sagen, ob eine Person „wirklich trans“ ist. Spoiler: Das konnte noch nie objektiv festgestellt werden…

Dass aktuell wirklich keine Erlaubnis des GBA für die gesamte Praxis nach S3-LL besteht, binär und nichtbinär, steht explizit im Urteil:

(39) 4. Der Senat verkennt nicht, dass nach den Grundsätzen dieser Entscheidung auch die auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Senats mögliche Behandlung von Transsexuellen zur Annäherung an das andere Geschlecht dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V unterfällt.

Obwohl höchstrichterliche Urteile kein Gesetzesrecht sind und keine vergleichbare Rechtsbindung erzeugen, kann es der aus Art 20 Abs 3 GG hergeleitete Grundsatz des Vertrauensschutzes allerdings gebieten, einem durch gefestigte Rechtsprechung begründeten Vertrauenstatbestand erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit einer geänderten Rechtsprechung oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung zu tragen.

Insoweit liegt es nahe, dass die KKn für bereits begonnene Behandlungen von Transsexuellen aus Gründen des Vertrauensschutzes die Kosten wie bisher weiterhin zu übernehmen haben.

D.h. nur bereits bewilligte Behandlungen dürften ausnahmsweise zu Ende geführt werden, obwohl sie eigentlich seit 2019 „illegale“ Methoden bezahlen.

Ende der Urteils-Analyse. wie gesagt: Ich bin kein Juristy. Lest selbst nach.

Das wird jetzt verdammt spannend…

„Der Mythos vom rosa Gehirn“ (Science Notes)

„Gibt es Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen? Nein, sagt die Neurowissenschaftlerin Lise Eliot. Ein Gespräch über Hirntransplantation, Neurosexismus und Kindererziehung.“

Lise Eliot, https://sciencenotes.de/unterschiede-gehirne-maenner-frauen/

Sehr interessant ausgedröselt. Die Unterschiede verschwinden, wenn der statistisch typische 10% Größenunterschied herausgerechnet wird:

Die Amygdala spielt eine entscheidende Rolle beim Erleben von Emotionen. Forscherinnen waren also überzeugt, dass sich da ein Geschlechterunterschied zeigen müsste, das passte einfach sehr gut in ihr Weltbild. In unserer Meta-Analyse fanden wir aber keinen Geschlechterunterschied mehr, sobald wir den Größenunterschied zwischen den Gehirnen beachteten. Das gilt für alle Strukturen – rechnet man ihn heraus, lassen sich männliche und weibliche Gehirne nicht mehr unterscheiden.

Dann geht es um das „Mosaik“ im Hirn:

[fMRT Bilder von Gehirnen bei der Arbeit] Sie fanden, dass es bei allen untersuchten neuronalen Strukturen große Überschneidungen zwischen Frauen und Männern gab. Laut Joel bestehen Gehirne aus einzigartigen »Mosaiken« von Merkmalen. Manche Merkmale kommen häufiger bei Frauen vor als bei Männern. Andere bei Männern häufiger als bei Frauen. Und dann gibt es noch solche, die sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorkommen. Joel und ihre Kolleginnen befragten die Teilnehmerinnen außerdem nach Persönlichkeitsmerkmalen, Einstellungen, Interessen und Verhaltensweisen. Dabei zeigten sich, in Übereinstimmung mit den Gehirnscans, große Überschneidungen zwischen Frauen und Männern.
Joel spricht da von relativer Maskulinität oder relativer Feminität, und zwar auf vielen verschiedenen Dimensionen. Wir als Gesellschaft gehen zum Beispiel davon aus, dass enge und emotionale Beziehungen eher weiblich sind. Ein stereotypisch weiblicher Charakter wäre eher sozial und empathisch. Rationales, analytisches Denken stufen wir eher als männlich ein. Dabei kann eine Person sehr »feminin« sein in der Art, sich zu kleiden, und sehr »maskulin« in der Art, wie sie denkt. Ihre Beziehungen können eher weiblich sein, aber ihre Interessen eher männlich. Wir denken leider sehr stark in Kategorien, während meiner Meinung nach das Geschlecht ein Spektrum oder viele Spektren ist, wie das Mosaik, das Daphna Joel beschreibt.

Ganz wichtig dabei: Die Zuordnung von „Persönlichkeitsmerkmalen, Einstellungen, Interessen und Verhaltensweisen“ zu „weiblich“ und „männlich“ ist ziemlich willkürlich und, das kommt später im Artikel, durch den Einfluss der Umwelt seit frühester Kindheit erzeugt und verstärkt.

Es könnte also sein – Beginn eigener Hypothese – dass viel von unserem Gendertrouble, von Crossdressing bis trans, dadurch entsteht, dass wir unser Hirn-Mosaik und den Druck so zu sein, wie wir sind, irgendwie mit der hiesigen, ziemlich scharf zweigeteilten, unterschiedlichen Lebensvorschrift für „Mann“ und „Frau“ in Einklang zu bringen versuchen und je nach Differenz unseres Mosaiks und unserer Verhaftung an den Normen unterschiedliche Lösungen finden.

Dazu passend habe ich gerade gestern mal wieder Abigail Thorns PhilosophyTube über „Social Constructs (or, ‚What is A Woman, Really?‘)“ gesehen youtube. Sollte spätestens mit deutschen Untertiteln gut zu verstehen sein und lohnt sich wie immer. „Homeostatic property cluster“ (mmmwwwrrr 🙂 ), „homöostatische Eigenschaftsbündel“ führt direkt zu Stereotypen, Zuschreibungen, Vorurteilen – und ihrer Willkürlichkeit.

Zurück zum verlinkten Artikel: Sehr fein formuliert auch die Abschnitte Discussion und Conclusion in „Dump the “dimorphism“: Comprehensive synthesis of human brain studies reveals few male-female differences beyond size“, das im Artikel angesprochen wird:

Despite clear behavioral differences between men and women, s/g differences in the brain are small and inconsistent, once individual brain size is accounted for. Most neuroscientists assume this
ambiguity will be solved through technical improvements: that larger studies, using higher resolution imaging and better processing pipelines will uncover the “real,” or species-wide differences between male and female brain structure and connectivity patterns. However, the present synthesis indicates that such “real” or universal sex-related difference do not exist. Or at best, they are so small as to be buried under other sources of individual variance arising from countless genetic, epigenetic, and experiential factors. […]
In layperson’s terms, these findings can be interpreted as rebutting popular discourse about the “male brain” and “female brain” as distinct organs.

„Für den Laien können diese Ergebnisse so interpretiert werden, dass sie die landläufige Meinung über das „männliche Gehirn“ und das „weibliche Gehirn“ als unterschiedliche Organe widerlegen“.

Ähnlich und etwas mehr Erklärung der damaligen Studienlage gab’s 2018 bei MaiLab: „Männliches vs weibliches Gehirn“ bei youtube oder ARD-Mediathek. Da taucht auch die Normalität der Mosaik-Hirne auf, bei der allerdings wie gesagt beachtet werden muss, dass „männlich“ und „weiblich“ eine willkürliche Zuordnung zu den vermessenen Eigenschaften ist. Dazu auch ein Blog-Beitrag. Mai Ti hat auch eine Folge über „Die Wissenschaft hinter Transgender“ gemacht: youtube(mit Quellen) und ARD.

Warum Selbstbestimmung?

Hinweis: Dieser Beitrag wurde geschrieben, kurz nachdem das Bundeskabinett den Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) in Richtung Bundestag auf den Weg gebracht hat. Die Diskussionen kochen hoch, warum überhaupt Selbstbestimmung, haben Gutachten nicht doch ihre Berechtigung? Motto: Da kann ja jed*r kommen! Spoiler: Ja, aber tun nur die, die es betrifft.

Warum sind nicht nur Supportgruppen für trans Personen für eine voraussetzungsfreie geschlechtliche Selbstbestimmung, das heisst ohne Gutachten oder Fremdbeurteilung, z.B. beim Personenstandseintrag, sondern auch Fachgesellschaften, Studien, etc?

Vereinzelt plädieren doch auch trans Personen für irgendwelche Begutachtungen, also externe Validierung.

Es sprechen im wesentlichen drei Gründe gegen Begutachtungen

** 1. Sie funktionieren nicht ** Mehrheitsmeinung der psychologischen Fachgesellschaften: Es gibt keine Tests, um die geschlechtliche Identität eines Menschen zu beweisen oder zu widerlegen, einfach weil es keine objektiven Merkmale gibt. Sämtliche solche Gutachten laufen auf zwei Punkte hinaus.

Erstens den Vergleich mit geschlechtlichen Stereotypen. Entweder der begutachtenden Person selbst oder einer wie immer gearteten Liste von dritter Seite (mit der die begutachtende Person quasi die Verantwortung auslagert).

Sprich: Wie gut kann die beantragende Person die gewünschten Genderklischees glaubwürdig „vortanzen“.

Zweitens auf einen Test der Leidensfähigkeit. Wie viel Geld, Zeit, Nerven und Belastung durch Bürokratie und intime Fragen wird die Person für ein positives Gutachten in Kauf nehmen.

Gutachten sind also einerseits sexistisch und beruhen auf Vorurteilen, wie sie „eine richtige Frau“ bzw „ein richtiger Mann“ anzieht, bewegt, spricht, welche Sexualität si*er pflegt, usw. Wir wissen von Nacktbeschau, Fragen nach sexuellen Phantasien und Statements wie „wenn Sie hier kein Herrenhemd anziehen, kriegen Sie kein Gutachten“ (zu einem trans Mann in Jeans und T-Shirt).

Zum anderen sind sie eine Art numerus clausus bzw Begrenzungswerkzeug, mit dem die Zahl an Personenstandswechsel künstlich klein gehalten wird. Absichtlich nach meiner Einschätzung, denn die Dysfunktionalität ist natürlich auch behördlich lange bekannt.

Ach ja: Nichtbinäre Menschen finden seltenst Begutachtende. Erstens gibt es kaum welche, die das Thema nichtbinär überhaupt verstehen, zweitens gibt es keine Stereotypen, die vortanzbar wären.

** 2. Sie benachteiligen und belasten ** Menschen mit wenig Geld, wenig Freizeit (Arbeit, Kinder), wenig sprachlicher Gewandtheit, Problemen im Umgang mit Behörden, fragiler Psyche (zum Beispiel wegen Diskriminierungserfahrungen), falschem Wohnort (keine oder nur schlechte Begutachtende in Reichweite) und so weiter werden bei der Gutachterei erheblich benachteiligt. Gerade trans Personen und insbesondere junge ohne familiäre Unterstützung fallen häufig in mehrere dieser Kategorien. Nicht davon spricht gegen einen Personenstands- oder Vornamenwechsel.

** 3. Sie sind in der Praxis wirkungslos ** Für den Alltag, also die Begegnung mit cis Personen sind die Gutachten belanglos. Die meisten wissen nicht mal, wie ein Personenstandswechsel nach TSG abläuft. Wenn sie eine Person als „vermutlich nicht cis“ wahrnehmen, wird ihre Reaktion nicht von überstandenen Gutachten, Gerichtsentscheidungen oder Personenstandseintragungen beeinflusst. Häufig nicht mal vom vorgezeigten Ausweis – oh, kein Geschlecht eingetragen! – mit einem neuen Vornamen. Entscheidend ist ihr optischer Eindruck und ihre spontane Haltung gegenüber trans Personen.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass insbesondere trans Personen mit einer langen Geschichte von Selbst- und_oder Fremdablehnung, Zweifeln und Leidensweg aus den Gutachten eine immense Bestätigung, Validierung und Genugtuung ziehen. Diese Empfindungen will ich keinesfalls abwerten. Das Problem ist mehr, dass sowohl diese Gefühle, aber auch die Gutachterei auf der Vorstellung einer objektiv feststellbaren Geschlechtsidentität beruhen, die es einfach nicht gibt. Diese Idee erzeugt erst unsere Probleme, schickt uns über willkürliche und unsinnige Hürden, um dann eine völlig unnötige Erleichterung zu erzeugen. All das entfällt mit der Selbstbestimmung einfach.

Für die Selbstbestimmung hingegen sprechen:

** 1. Sie depathologisiert ** Keine Psychiater, keine Tests = Offiziell keine Störung, keine Krankheit, keine Anormalität, sondern einfach die persönliche Erkenntnis, in ein anderes Team zu gehören und entsprechend zu leben. Das machen wir uns ja auch nicht leicht, wegen der zu erwartenden Konsequenzen, also unseren Mitmenschen.

** 2. Sie löst die geschlechtliche Identität endgültig von Körper und Aussehen ** Das Verfassungsgericht hat in mehreren Entscheiden und Bemerkungen erklärt, dass der staatliche Geschlechtseintrag nichts mit Körper oder Aussehen zu tun haben darf, sondern maximal die im Alltag gelebte Rolle abbilden darf – und dass der Staat prinzipiell auch auf den Eintrag ganz verzichten könnte. Da, siehe oben, weder Psychogutachten, noch medizinische Beschau die Identität feststellen können, bleibt die Selbstaussage als einzige Möglichkeit übrig.

** 3. Sie beseitigt offiziell und explizit die Fiktion einer objektiven Geschlechtsidentität ** und
** 4. Sie gibt der Selbstaussage einer Person Priorität ** Das klingt vielleicht etwas esoterisch, ist aber ein riesiger Hammer. Eine Revolution und eine Mega-Aufgabe für uns alle. Der Staat erklärt, dass er nur noch einen frei wählbaren Eintrag hat, der ungefähr so wirkmächtig wie der Religionseintrag ist. Der gilt nur noch für ein paar übrig gebliebene Gesetze, aber ausdrücklich nicht im Alltag. Im nichtstaatlichen Bereich darf nicht nach Geschlecht diskriminiert werden (AGG, GG, etc). Auch nicht wegen trans. Jede Person hat das Recht, gemäss ihrer selbstbestimmten Identität respektiert zu werden; der Staat hält sich aus der Feststellung völlig raus. Wow.

Übersetzt heisst das: Handelt das irgendwie anders untereinander aus, aber respektvoll, fair, ohne Diskriminierung und – meine Lesart – nach Selbstzuordnung der Personen (weil: BVerfG).

Die Mega-Aufgabe ist die Aushandlung, wie wir in Zukunft mit nach Geschlecht aufgeteilten Situationen, Räumen, Veranstaltungen umgehen. Und untereinander generell. Können, wollen, dürfen wir diese dauernde Fremdzuschreibung aufrecht erhalten, von der Backtheke bis zur legendären Frauensauna? Wo ist die Grenze, bis zu der andere uns unsere Identität absprechen dürfen, bzw ihre eigene Ansicht über unsere Ansage stellen dürfen, wenn keine offizielle Feststellung mehr existiert und die auch nie irgendwie objektiv war?

Das wird sehr spannend und auch sehr kontrovers werden. Ist aber dringend notwendig. Ebenso wie die Selbstbestimmung über Registereintrag und Vornamen.

„Einigt euch doch mal“ (auf ein Pronomen)

(Kleine Reaktion auf eine häufige Forderung verunsicherter Menschen)

Tja, wäre natürlich einfacher, wenn wir das so lösen könnten. Einfach eine dritte (bzw vierte) Variante zum er/sie/es und der/die/das. Dann gäbe es nicht diese Verwirrung um Anreden, Neopronomen usw.

Leider ist es komplizierter. Erstens lässt sich nichtbinäre Identität nicht optisch erkennen (auch nicht an blauen Haaren…), der Hauptgrund aber folgt hier:

Warum ist diese Pronomensache überhaupt so wichtig für „uns“ (Nichtbinäre)?

Es ist Selbstermächtigung. Es gibt noch – glücklicherweise – keine eindeutige „dritte“ Gruppe. Es geht sogar vielen (auch mir) ausdrücklich darum, dass es keine einzelne dritte Gruppe gibt.

In einer Welt, in der viele nichtbinäre Wesen vor allem an den gegenderten Zuschreibungen „als Mann“, „als Frau“ leiden/gelitten haben, wäre die dann-Zuschreibung in die nächste Stereotypenkiste genau das falsche.

Das erscheint genderbinären Menschen vielleicht unverständlich. Die stetige Unterscheidung Mann/Frau ist so eingebrannt, dass das Weglassen fast undenkbar ist. Für mich aber fällt damit eine völlig unnötige, künstlich verkomplizierende und belastende Kategorie weg.

So als würden wir sprachlich andauernd zwischen Handball- und Eishockey-Fans unterscheiden und 95% der Menschen fänden es völlig normal, dass sich alle entweder-oder zuordnen und andere uns optisch als das eine oder andere deuten.

„Einigt euch doch mal“ wäre dann die Anforderung, uns (weder-noch Menschen) auf eine bestimmte Sportart zu einigen, wenn uns Sport als den Alltag sortierende Kategorie – also zum Beispiel beim Brötchenkauf – nicht interessiert sondern belastet.

Also sorry, so gerne ich es „euch“ einfacher machen würde, aber sich gerade nicht auf ein einzelnes drittes zu verkürzen ist aktuell genau der Knackpunkt. Es ist „Freiheit von“ statt „mehr desselben“.

Der beste Rat, den ich „euch“ geben kann, ist tatsächlich „Name statt Pronomen“ oder sich das jeweilige Pronomen als Nick, zweiten Vornamen oder Endung zu merken: „Susi-xier“, „Max-en“, „Lynn-they“.

Wir (nichtbinäre) lernen aber auch dazu. Zum Beispiel, sage ich inzwischen nicht mehr „keine Pronomen“, weil das binär-gewohnten Menschen die Sache nicht leichter macht und sie erst nachdenken müssen, was das praktisch bedeutet. Von „en/ens“ mal ganz zu schweigen. „Name Jaddy, Pronomen jaddy“ scheinen viele einfacher umsetzen zu können und für mich ist das Ergebnis das gleiche.

Was, wenn der Begriff „Gender“ das Problem ist?

Da fragte eine Feministin, die „primär für Rechte von biologischen Frauen eintritt, wohlgemerkt aller biologischen Frauen“ in einer Diskussion zu einem Artikel. Sie meint, „diese zweifellos größte gesellschaftlich diskriminierte Gruppe wird sprachlich nur sichtbar, wenn sie mit weiblichen Substantiven benannt wird oder in neutralen Substantiven inkludiert ist. Biologische Frauen werden nur gesehen/gehört, wenn sie geschrieben/gesprochen werden.“ (Ja, der TERF-Geruch kommt nicht von ungefähr. Sie fand auch Kathleen Stocks Buch „erhellend“).

Ihrer Ansicht nach würden durch „das Gendern“, vor allem durch Sternchen und Inklusion aller Gender, „biologische Frauen“ wieder unter den Tisch fallen. Und damit ausgerechnet die größte diskriminierte Gruppe, die offenbar deshalb – sorry, Sarkasmus – gegenüber kleineren diskriminierten Gruppen einen Vorrang bei der Nichtdiskriminierung haben sollten.

Anders gesagt: Statt „Gender“ sollte „die Biologie“ das anerkannte Haupt-Diskriminierungsmerkmal sein.

Well, das ignoriert grundlegende Erfahrungen, die diese Person wohl nie gemacht hat:

Von den mindestens vier Dimensionen von „Geschlecht“ sind im Alltag pimär zwei bedeutsam. Vergeschlechtlichte Körperlichkeit und wahrgenommene bzw gedeutete soziale Rolle. Beides hat nur begrenzt etwas miteinander zu tun, wird aber regelmässig falsch verkoppelt.

Die Vernachlässigung nicht-männlicher Körper in der Medizin und in der Gestaltung von Umgebung ist einfach zornerregend. „Das Maß für Mensch ist Mann“. Das ist benachteiligend, gesundheitsschädlich und teilweise tödlich für alle, die nicht in dieses Maß passen.

Dieses Maß ist größtenteils unsichtbare Selbstverständlichkeit und so wenig nicht gedacht, dass selbst kommunale Schneeräum-Pläne -hoffentlich ungewollt- sexistisch diskriminierend sein können, siehe Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen.

Auf der anderen Seite kommt es im Alltag zu fast 100% nicht auf medizinische Aspekte an, sondern wie Menschen durch andere gedeutet werden und welche Konsequenzen dies dann hat. Die körperlich-geschlechtliche Benachteilung entsteht erst durch die sozialen Rollen, die nicht-männliche Menschen marginalisiert. Autos, Werkzeuge usw müssten nicht einseitig für männliche Durchschnittsmaße gebaut werden und Notfallmedizin könnte auf die unterschiedlichen Symptomatiken von Herzinfarkten geschult werden. Wenn dies gewollt würde; vor allem von cis Männern.

Ich bin nichtbinär, bewohne einen teilweise medizinisch transitionierten „Mischkörper“ und werde je nach Aufmachung männlich oder weiblich gedeutet.

Damit wechseln auch jeweils Privilegien und Benachteiligungen. Eine Erfahrung, die ich wirklich allen Menschen mal empfehlen würde. Die Unterschiede im Umgang sind eklatant.

Das heisst auch, dass ich allein dadurch, wie andere mich sehen, ein (binäres) Geschlecht zugewiesen bekomme und mich dazu verhalten muss. Tue ich das konform, kann ich „mitschwimmen“. Begehre ich dagegen auf, erzeuge ich Irritation und ggf Konflikt.

Genau das ist Gender im Alltag. Ohne die Reflektion durch andere habe ich keines. Bei mir tatsächlich. Ich bin agender. Ich habe effektiv kein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gendergruppe.

Wir alle werden von anderen vergeschlechtlicht und haben zusätzlich unser internes Empfinden, welche Normen, Rollen, Verhaltensweisen, Sprache, etc uns entsprechen. Das muss nicht kongruent sein, vor allem nicht zu den binären Stereotypen, und kann von materiellen körperlichen Features ziemlich entkoppelt sein.

Bei den meisten Menschen ist die Kopplung Körper/Genderrolle aber so tief verankert und nie in Frage gestellt worden, dass Inkongruenz gar nicht vorstellbar ist. Die „Baby X„-Experimente zeigen, wie bereits Kleinkindern Gendernormen aufgedrückt werden, weil ihr Geschlecht (falsch) angenommen wird.

Die Ursache geschlechtlicher Benachteiligung ist also wirklich eher „Gender“. Eigentlich an Genderzuweisung durch andere. Unterschiedlicher Umgang und Denke anderer Menschen, die an optischer Deutung festgemacht werden.

Gerade die Erfahrungen von trans Personen mit Passing, die also im Alltag nicht „erkannt“ werden (und das sind sehr viele) zeigen, dass sämtliche geschlechtliche Privilegien und Diskriminierungen an dieser Deutung durch andere hängen. (Das macht das Leben von trans Männern immer noch schwerer als das von cis Männern, aus diversen Gründen)

„Die Biologie“ als Kriterium ist daher bestenfalls zweitrangig.

Es heisst auch, dass wir prinzipiell Diskriminierungen, Erwartungen und Zwänge von Optik, körperlichen Features und Vergeschlechtlichung entkoppeln können. Wenn wir wollen. Es heisst nicht, eine binäre Spaltung zu verhärteten Fronten zu verschärfen, sondern die Zuweisung zu beenden. Das ist, wenn ich de Beauvoir, Butler & Co richtig verstanden habe, der grundlegende feministische Gedanke.

Selbstbestimmungsgesetz: „im übrigen ändert sich nichts“

Der am Donnerstag, 27.4. geleakte(1) Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) erzeugt viel Wut in der trans/nb Community. So wie ich das sehe hauptsächlich, weil jenseits des Offenbarungsverbots keine Schutzwirkung des Eintrags erklärt wird.

Zusammengefasst stehen auf den 68 Seiten nur:

  • Alle können ihren Eintrag ändern (und Vornamen, mit Fristen, usw)
  • Anspruch auf die Änderung alter Dokumente
  • Zwang-Outing kostet ggf Bußgeld

Das ist alles. Der Rest sind rechtliche Klarstellungen des Status Quo, also wie er aktuell ist! Keine Neuregelungen, keine Besser- oder Schlechterstellung von Personen durch Änderung des Eintrags oder eine bestimmte der vier Optionen.

Dies ist aus meiner Sicht ebenso genial wie gemein. Gemein, weil die Änderung eben nicht bewirkt, dass andere das eingetragene Geschlecht (ggf straf/bußbewehrt) respektieren müssen. Genial, weil damit auch keine Angriffsfläche geboten wird. (Ja, das ist ein Einknicken vor der anti-trans Lobby. Der gesellschaftlichen Realität der anti-trans-Lobby)

Der große Hammer ist für mich §6 (Wirkungen) und dessen Begründung (S.42ff), in denen explizit drin steht, was vielen gender-binären trans Personen und wohl 100% der cis Personen bisher offenbar nicht klar war:

*Der Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ist in der alltäglichen Praxis quasi wirkungslos.*

Wörtlich: In „Lebenssituationen […], in denen das im Personenstandsregister eingetragene Geschlecht weder bisher noch künftig entscheidend ist“. Das gilt bei allen, insbesonders privaten Dingen, Geschäften und Begegnungen, wo aus gesetzgeberischer Sicht der Personenstandseintrag nicht das verpflichtende Kriterium ist. *Selbst wenn es um geschlechtsdifferenzierte Dinge geht!* – wie bei zweigegenderten Räumen, Sport, Medizin, Anrede an der Backtheke.

Bedeutung hat er nur für direkte staatliche Leistungen und Handlungen. Quoten zwecks Gleichstellung, Rente, Wehrdienst, Justizvollzug.

Das ist aus zwei Gründen super krass. Zum einen steht dieses Rechtsverständnis der Bedeutung(slosigkeit) explizit in einer Gesetzesbegründung und ist damit quasi amtlich. Zum anderen gilt das nicht nur für Menschen mit geändertem Eintrag, sondern für alle. Cis, trans, genderdivers, alle.

In der Praxis wird Geschlecht durch die Deutung per Augenschein der Person gegenüber zugeschrieben. Immer. Wer nicht zufällig/absichtlich die Geburtsurkunde dabei hat (wie ich), hat keine Möglichkeit, den Personenstandseintrag nachzuweisen und, wie im Entwurf zwischen den Zeilen formuliert: Es macht erst mal keinen Unterschied.

Wenn die relevante Person gegenüber Deine Ansage nicht respektiert, hast Du keine Handhabe.

Das war bis jetzt so, das wird sich durch das SBGG nicht ändern, das müssen wir Stück für Stück in allen Bereichen durch Aktivismus und Diskussion angehen.

Die drei Seiten zu §6 machen da viele lange überfällige Fässer mit Themen auf.

Willkommen in meiner Enby-Alltags-Wirklichkeit.

Eine vielleicht unbequeme persönliche Meinung: Ein SBGG mit Schutzrechten und Akzeptanzpflichten für Dritte wäre meines Erachtens nicht durch den Bundestag zu bringen. Diese Minimalversion mit dem expliziten „alles andere bleibt wie es ist“ schon. Insofern bin ich froh, wenn bald alle ihren Personenstand und die Vornamen ändern können und hoffe auf sehr viele nicht-binäre Änderungen. Egal ob „divers“ oder Streichung.

(1) https://drop.allegutendinge.jetzt/

„Seid doch mal entspannter“

Sinans Woche brachte am 15.7. einen Youtube-Beitrag, in dem Sinan sinngemäß meinte, „wir“ (LGBTQIA+) sollten doch mal etwas entspannter sein, weil „wir“, bzw unsere Probleme, der Mehrheit doch ziemlich egal seien.

Ausserdem wähnte Sinan, dass Menschen, die Neopronomen benutzen, keine oder mehrere, sich ihrer selbst und ihrer Rolle nicht wirklich sicher seien.

Untertitel so ungefähr, die Hitze und Häufigkeit der Debatte seien ermüdend.

Ja nun…

Also abgesehen davon, dass das „der Mehrheit egal“ einigermassen stimmt, liegt Sinan reichlich falsch.

Was „den meisten Menschen“, also vor allem cis (het-bin-dya-mono-…) vermutlich nicht klar ist: Der Stress, sich als queere Person mit der nicht-queeren Mehrheit anzulegen, ist für viele von uns das kleinere Übel. Nämlich zur Alternative, im Mehrheits-System mitzuspielen.

Wenn wir nichts sagen, behandeln sie uns so, wie sie uns deuten, statt so wie es für uns leidensarm und richtig ist.

Ich bin mir meiner selbst – nonbinär, trans – sehr sicher. Vor allem, dass ich eben nicht „als Mann“ oder „als Frau“ gedeutet und dann wahlweise wie eine*r behandelt werden will, weil ich das nicht andauernd aushalte.

Das _muss_ ich immer wieder kommunizieren. Dazu _brauche_ ich Pronomen und andere Hilfsmittel wie Sternchen, sonst bleibe ich unsichtbar, werde nicht mitgedacht, was den Stress für mich wieder erhöht.

Die Vielzahl an Pronomen, die trans und nonbinäre Menschen verwenden ist ein Problem der binär durchgenderten deutschen Sprache, wo sogar der Apfel und die Birne vergeschlechtlicht werden, vor allem aber Menschen. Es gibt keine neutralen Formen, deshalb experimentieren wir.

Das heisst nicht, dass wir uns nicht sicher wären, sondern im Gegenteil, dass die Sprache für uns noch unzureichend ist. Schweden hat das „hen“ eingeführt, im englischen ist singular they/them inzwischen gebräuchlich.

Also: „Seid mal etwas entspannter“, so kam es jedenfalls rüber, ist ein hohler Rat.

Solange unsere Existenz in Frage gestellt und unsere Bedürfnisse derart ignoriert und wir effektiv durch Gewalt bedroht werden, sind wir so entspannt, wie es nur geht. Wenn „ihr“ uns einfach akzeptiert und wir uns den geringen Aufwand teilen, kommen wir prima klar und können uns den gemeinsamen Problemen widmen. Auch denen der Geschlechterungerechtigkeit.