“Technisch gendern”? Gut gemeint, nicht gut gedacht

Gerade wurde mir der Artikel “Gendern smart gelöst: Eine technische Lösung für PDF-Publikation und Content Delivery im Web” zugeleitet, den ich erst interessiert, dann amüsiert und dann nach einigen Überlegungen mit sehr viel Stirnrunzeln noch mal gelesen habe.

Worum geht’s? Die technische Lösung heisst, dass “gegenderte” Phrasen on the fly umgeschaltet werden können. Wo jetzt “Leser und Leserinnen” steht, macht ein Klick daraus “Leser*innen”, “Leserinnen”, “Lesende” – oder “Leser”. Die endgültige Form soll nicht von der Quelle vorgegeben, sondern auf der lesenden Seite wählbar sein, vorzugsweise als Präferenz gespeichert in den persönlichen Einstellung der Empfangsperson.

Flächendeckend eingeführt bekämen also alle zukünftig jeden Artikel in genau ihrer bevorzugten Weise gegendert angezeigt.

Auf den ersten Blick ist die Idee bestechend: “Das Problem unterschiedlicher Vorlieben” – und genau darauf reduziert die Firma das Thema – wird an die Lesenden ausgelagert. Konflikt kann nicht mehr auftreten, weil er gar nicht mehr wahrgenommen wird. Die angesprochenen Probleme der komplexen deutschen Grammatik liessen sich bestimmt auch lösen.

In Wirklichkeit löst diese Idee allerdings gar nichts. Sie blendet nur aus. Das ist natürlich für Schreibende eine riesige Erleichterung, weil sie sich als Primärziel des Ärgers aus dem Thema herausziehen können.

Tatsächlich macht diese Technik aber nicht nur den Konflikt unsichtbar, sondern auch die Menschen, wegen deren Bedürfnisse in der Realität diese Diskussion stattfindet.

Ich als nicht-binäre Person würde bei allen Formen ausser vielleicht “Leser*innen” nicht nur sprachlich ausgeblendet, sondern auch gedanklich. So wie in der Vergangenheit. Wer für sich eine andere Präferenz anklickt, würde meine Existenz nicht mehr für möglich halten – und in den Handlungen auch nicht berücksichtigen.

Das wiederum beträfe mich in der Folge dann ganz direkt. Bei Eingabeformularen, Webshops, Toiletten, in Schuh- und Bekleidungsläden, Umkleiden, Sportvereinen, usw., wo nicht-binäre Bedürfnisse zu fast 100% schlicht nicht vorkommen.

Mit anderen Worten: Mein Nicht-Vorkommen ist eine Folge des Denkens derjenigen, die nicht selbst betroffen sind. Und so wie es mir geht, geht es allen, die normalerweise sprachlich nicht vorkommen – und damit auch nicht gedanklich. Frauen in bestimmten Berufen und Positionen[1], Menschen mit besonderen Bedürfnissen[2], usw.

Die genderneutralen (“Lesenden”) bzw. genderinklusiven (“Leser•innen”) Formen sind explizit dazu da, Menschen an Stellen sichtbar zu machen, an denen sie bisher nicht bedacht bzw. mitgedacht werden.

Und zwar extra für diejenigen, die nicht selbst betroffen sind.

Wenn diese Menschen sich – am besten noch per Voreinstellung – alle Texte auf den Stand des letzten Jahrhunderts zurückklicken können, geht dies am Zweck der Formen und dem zugrundeliegenden Problem als Ursache vorbei. Die Lesenden bekommen eine individualisierte Scheinwelt vorgespielt.

Die technische Lösung vertieft bzw. verlängert also die Spaltung, statt tatsächlich etwas zu lösen. Und schlimmer noch: Sie könnte als “Argument” verwendet werden, dass doch jetzt alle zufrieden sein sollen.

Einfacher wäre an vielen Stellen, wenn qualifizierte Menschen von vornherein bewusst inklusiv texten würden. Und da könnte Software meiner Ansicht nach tatsächlich helfen: Indem sie Stil, Formulierungen, Sprache und Layout auf Inklusivität und Barrieren prüft und Verbesserungen vorschlägt.

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[1] Die Studien zum impliziten Gender-Bias bei Berufen, etc. sind vermutlich bekannt.
[2] Betrifft bei Texten zum Beispiel Farbe sehen, Kontrast, leichte Sprache, Eignung für Vorlesesoftware.