Zu wenig Ahnung, zu viel Meinung (Hormone, Psyche, Nichtbinarität, Fluidität, plurale Menschen)

Es gab einen Forenbeitrag, weil gefragt wurde, was denn Genderfluidität eigentlich sei. Gefragt hatte eine binäre, trans Frau (btF). Jene btF hat erhebliche Schwierigkeiten, andere als binäre Identitäten nachzuvollziehen.

Insbesondere als ich einen aktuellen Artikel des Queer-Lexikon für Beispiele anführte, war es mit dem Verständnis ganz vorbei. Die Antwort bestand aus u.a. folgenden Statements (paraphrasiert wg Anonymität):

  • Da brauchen aber welche dringend Therapie
  • Was die beschreiben ist entweder normal oder klingt nach psychischen Auffälligkeiten
  • Wer sich andauernd umentscheidet hat zu viele Ideen oder ADHS
  • Hormone wegen Dysphorie zu wollen ist unverantwortlich
  • „unter Umständen irreversible Veränderungen“
  • Solche Statements sollten entsprechend kommentiert werden, sonst macht das noch jemand nach
  • Es sollte immer professionelle Hilfe geben
  • Sich andauernd mit sich selbst zu beschäftigen ist doch krank, traumatisiert
  • Leute müssen vor sich beschützt werden, sonst machen sie Fehler und begehen Suizid

Das ist natürlich wirklich arg. Deshalb habe ich ausführlich geantwortet:


So sehr ich deinen Wunsch nach Fürsorge und fachlicher Unterstützung für trans Personen und Menschen mit psychischen Problemen schätze, schiesst du hier nach meiner Erfahrung(1) erheblich über das Ziel und die Realität hinaus.

Es erinnert mich ein wenig an einen Freund, studierter Mediziner aber nach dem praktischen Jahr in der Klinik abgebrochen. Er hatte viel gesehen und gelernt und war in BDSM Kreisen berüchtigt für seine Sicherheits-Regeln, mit einer sehr festen Meinung, was geht und was nicht – und zwar generell und für alle. Ein anderer Mediziner-Freund mit jahrelanger Berufspraxis kommentierte damals: „Er hat gelernt, woran Menschen alles sterben können, aber noch nicht die Erfahrung, was Menschen alles überleben“.

Also tl;dr es ist in der Praxis eigentlich nicht so dramatisch, wie du es dir offenbar ausmalst. Dafür ist häufig anderes schlimm.

Thema Hormone

Erst mal: Bei Hormonen kannst du rein körperlich-medizinisch fast nichts kaputt machen. Die Risiken für echten Schaden sind gering, ebenso die Quoten und treten idR langsam beginnend und nach Monaten oder Jahren falscher Medikation auf, und quasi nie bei den körperidentischen Hormonen in gängiger Dosierung.

Hint: Jeweils eine Hälfte der cis Bevölkerung lebt mit dem jeweiligen Hormon ziemlich gut. Das sind schon mal ca. 96% der Menschheit. Ca. 80-90% der trans Bevölkerung(2), ca. 1-3% absolut, wollen genau die „unter Umständen irreversiblen Veränderungen“. Die anderen wollen keine HET.

Ich kenne keine trans Person, siehe (1), die sich keine Gedanken gemacht hätte, was eine HET körperlich bewirkt. Im Gegenteil sind die meisten Fragen genau danach wann, was, wie viel. Zu den anderen Folgen weiter unten.

Den meisten Körpern ist es ziemlich egal, ob sie auf Estradiol oder Testosteron laufen. Die Hauptaufgaben bei Knochenbau, Blut, etc machen beide. Das bedeutet, dass eine transgeschlechtliche Hormonersatztherapie (tgHET) keine einmal-für-immer Entscheidung ist. Sie kann begonnen, moduliert, unter- oder abgebrochen werden.

Leider ist das medizinische Fachwissen zu tgHET ziemlich dünn. Die Sample für Studien sind klein, es gibt kaum Finanzierung und die Settings sind kaum vergleichbar. Noch dünner ist das Fachwissen bei den Ärztys. Auch bei den Endos. Es gibt wenige, die längere Erfahrung haben und noch weniger, die sich fortbilden.

Die meisten arbeiten einfach nach Leitlinie und Empfehlungen. Das bedeutet: Mach ne Baseline, starte mit diesen Medis (Hormon als Gel, ggf Blocker) und Dosierungen, geh nach dieser Referenztabelle, bis x ng/ml erreicht sind. Und das erst alle drei Monate, dann sechs und bei einigen sogar nur einmal pro Jahr.

Das führt regelmässig zu schlechter Betreuung. ZB zu viel Blocker und gerade im Beginn (Titrationsphase) zu wenig Estradiol. Folge: Depressive Schübe, Antriebslosigkeit etc. Und es gibt nicht wenige mit der Meinung, gerade bei transfemininen Personen die Östrogenlevel senken zu wollen. „Weil das bei cis Frauen ja auch so ist, mit der Menopause“. Das ist genauso völliger Unfug wie die „Pillenpause“.

Ach ja, die Bluttests. Die sind vor allem zur Absicherung. Zwei trans erfahrene Endos haben es mir so erklärt: Wir gehen hier eine jahrelange Verpflichtung ein. Im Leben kann alles mögliche aus allen möglichen Ursachen passieren. Die Kassen und Versicherungen gucken dann nach „Abweichungen“ vom Normal und versuchen Verantwortliche zu finden, die Schuld und Kosten übernehmen. Wenn ich die Tests nach Leitlinie mache, kann ich sagen „ich bin nicht schuld, ich hab alles nach aktuellen Vorgaben gemacht“. Funktioniert bei vielen anderen chronischen Patientys übrigens genauso.

Ansonsten kannst du nur feststellen, ob und wie viel von den Hormonen tatsächlich im Blut ankommt. Das ist aber bei „alle paar Monate“ nur ein Schnappschuss.

Fazit: tgHET ist kein Hexenwerk. Die gesundheitlichen Risiken sehr begrenzt. Die Profis haben häufig nicht mehr Ahnung als ihre Klientys und können bei individuellen Bedarfen keine angepasste Behandlung anbieten. Tatsächlich ist das Community-Wissen häufig besser und war schon etliche Mal nötig, um „Profis“ zum Update ihrer Vorgehensweise zu nötigen. Unzählige trans Personen fangen selbstbestimmt eine HET an, weil persönliche Umstände nicht zum System passen. Ich kenne viele. Allen geht es gut.

Thema Psyche

Gleichzeitig sind die emotionalen, seelischen und sozialen Folgen einer tgHET nicht zu unterschätzen. Aber auch dazu braucht es nicht unbedingt eine Therapie. Zumal – wie oben – nur die wenigsten Therapeutys wirklich Ahnung haben, wie es sich wirklich als trans lebt. Selbst wenn sie viele trans Personen auf ihrer Listen haben/hatten, sind sehr viele in cis, binären und hetero-orientierten Mustern verhaftet(3).

Trans zu sein ist keine Störung. Es lässt sich auch therapeutisch nicht beseitigen. Trans als Scheinausweg aus anderen psychologischen Gründen ist sehr selten und erledigt sich in der Regel innerhalb der eigenen Testphase. Lange bevor HET richtig einsetzt oder gar OPs passieren. Mal abgesehen davon, dass vor OPs zwingend psych. Indikationen stehen.

Der eigentliche Bedarf besteht in der Begleitung durch die Transition und im Ankommen in einem neuen Normal. Die Schwierigkeiten ist nicht trans zu sein, sondern mit der cis Umwelt und ihren Verständnismängeln für uns klar zu kommen.

Die wirkliche Begleitung findet deshalb zumeist in trans und peer Beratungen, SHGs und Online-Gruppen statt. Weil da Leute sind, die die Situationen wirklich kennen und nachvollziehen können. Siehe hier im Forum zB die Threads zum Thema „ich bin bis jetzt in einer hetero-Beziehung. Was wird da jetzt draus. Mein Partny ist doch hetero“. Auch „wann und wie oute ich mich auf der Arbeit?“, „Ab wann benutze ich die andere Toilette/Dusche?“, „dieser eine Mensch misgendert und deadnamed mich ständig“, usw. sind typische, wiederkehrende Themen überall.

Das hat aber alles nur begrenzt mit tgHET zu tun. Ein Therapiezwang ist daher ziemlich überflüssig. Aufklärung und Beratung sind prima, und informed consent nachweislich ausreichend.

Fazit: Trans Personen wissen in der Regel was sie wollen. Sie kennen normalerweise auch die Konsequenzen und stellen sich die richtigen Fragen. Leider haben die meisten „Profis“ weder die Kompetenz noch die Erfahrung und das Einfühlungsvermögen, diese Fragen qualifiziert zu beantworten. Das meiste Wissen ist in den Communities und Verbänden.

Thema Eigenverantwortung

Dann: Uns allen wird im normalen Leben ziemlich viel Eigenverantwortung zugetraut und abverlangt. Wohnung, Nahrung, Gesundheit und genug Geld, um das alles zu bezahlen. Wenn du dich nicht selbst kümmerst, tut es kaum wer anders. Es sei denn, du beeinträchtigst deren Leben. Dann wollen sie dich eher aus dem Weg haben.

Aber keinein wird dich zwangsbeschützen, wenn du einen Job annehmen willst, heiraten, ein Kind in die Welt setzen, deine Ersparnisse ausgeben, eine gefährliche Sportart machen, in der Fremdenlegion anheuern, in eine Sekte gehen oder ne Menge ungute Substanzen konsumieren.

Also warum sollte das ausgerechnet bei Menschen passieren, die eine andere Wahrnehmung von Geschlecht haben und ihr Leben deshalb anders origanisieren? Mit oder ohne HET oder anderen Massnahmen?

Woher käme das Recht dazu und wo ist der Unterschied zum früheren „Homosexuelle Menschen sind psychisch krank und müssen deshalb zwangstherapiert werden“?

Wir haben die Freiheit, auch „Dummheiten“ zu machen. Fehlentscheidungen zu treffen. Viele davon erzeugen „unter Umständen irreversible Veränderungen“; nicht nur körperlich. Diese Freiheit ist elementar wichtig für Artikel 2(1) GG: “ Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

In einer idealen Welt gäbe es zum einen leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Information und Aufklärung zu allen Themen im Vorfeld, und zum anderen ebenso leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Hilfe und Beratung, wenn was schief geht.

In der Realität gilt sowohl für seelische Probleme, als auch für TIN*, dass weder das Vorfeld noch die Krisen von „den Profis“ ausreichend abgedeckt wird. Der Großteil wird von ehrenamtlichen und Selbsthilfe geleistet, die häufig genug „die Profis“ auf den aktuellen Stand des Wissens und der best practices einnorden müssen.

Thema Umgang mit Vielfalt

Ich erlebe immer wieder, dass Menschen anderer Leute (Selbst)Wahrnehmung sofort und ausschliesslich auf sich anwenden, ihre eigene begrenzte Weltsicht und internen Bewertungen, und reflexartig entscheiden „oh wie schlimm, da muss eins doch was gegen tun“. Nein. Die hauptsächliche Frage ist, ob und wie die Person mit sich klar kommt. Geht es ihr gut bzw sogar besser oder empfindet sie einen Leidensdruck? (DSM: B-Kriterien)

Gute Therapeutys lernen ziemlich früh, ihren Behandlungsauftrag zu definieren. Erste Frage: Habe ich überhaupt einen? Hat die Person mich explizit gebeten, mich mit ihr und dem Thema zu beschäftigen? Nächste Frage: Was möchte diese Person verändern und habe ich möglicherweise geeignete Vorschläge und Methoden anzubieten?

Alles andere ist übergriffig und unprofessionell. Sogar möglicherweise ein Behandlungsfehler. Auch wenn es in den Fingern juckt und es doch – nach den eigenen Vorstellungen – da diese behandlungsbedürftige Baustelle gibt und so und so viel besser wäre.

Wir sollten dieses Prinzip mMn auch als nicht-Profis anwenden. Menschen sind ungeheuer vielfältig und haben unglaublich vielfältige und persönliche Weisen, mit ihrer Biografie, ihrer Umgebung und sich selbst klar zu kommen. Infinite Diversity in Infinite Combinations. Wir können ein- oder zweimal einen Vorschlag machen oder Beispiel geben, aber einmischen, unverlangte Diagnosen stellen oder Therapiebedürftigkeit zu attestieren, ohne die Menschen genau zu kennen und ohne gefragt worden zu sein ist, wie gesagt, übergriffig. Auch als nicht-Profi.

Wenn wir etwas nicht so richtig verstehen, steht vor der Beurteilung die Pflicht zur Selbstaufklärung. Bis das Thema ausreichend verstanden ist mit Fakten, Hintergründen, Motiven und erlebter Realität. Also erst mal eine Menge Fragen.

Manchmal stellen wir fest, dass bestimmte Konzepte auch nach vielen Fragen einfach ausserhalb unseres Horizonts bleiben. Geht mir mit der Stringtheorie so. Ich weiss nur, dass es sie gibt und ein paar Faktensplitter. Da enthalte ich mich jeglicher Meinung und stelle höchstens ein paar Fragen.

Manche Dinge sind so komplex und veränderlich, dass es unglaubliche viel Zeit und Aufwand braucht, sie qualifiziert zu erschliessen. Geht mir mit „dem Nah-Ost-Konflikt“ so. Das lasse ich an mir vorbei gehen. Ich muss keine Meinung haben und es ist mir den Aufwand nicht wert, mich so aufzuschlauen, dass ich tatsächlich mitreden könnte. Kurzgeschlossene Stammtischmeinunngen sind aber mE von übel.

Manches können wir verstehen, nachvollziehen, emulieren, auch wenn wir es innerlich nicht nachfühlen können; höchstens mit Analogien. Geht mir mit Religiosität so – und mit (binärem) Geschlechtsempfinden. Hier kann ich sachlich diskutieren, weil ich viel Zeugs gelesen habe. Hier traue ich mir eine Meinung zu, soweit mich das Thema persönlich betrifft. Den emotionalen Teil, den ich nicht nachempfinden kann, lasse ich bei den anderen. Ich kann ihn für sie wertschätzen, aber jedes Urteil meinerseits wäre unangebracht.

In Kurzform: Äussere dich nur zu dem, was du wirklich verstehst und zwar auf dem Level deines Verständnisses. Ansonsten höchstens Fragen, Offenheit und Lernbereitschaft.

Thema Gendefluidität und andere Formen von Nichtbinarität

Es gibt unzählige Versuche, Geschlechtsidentitäten zu systematisieren. Das einfachste ist noch das Gender Unicorn oder auch die Gender Bread Person. Die können zum Beispiel schon mal die Unterscheidung zwischen Identität, Präsentation, körperlichem und Amtsgeschlecht. Abgegrenzt von der sexuellen und romantischen Orientierung.

Das ist aber für einige Menschen nicht ausreichend. Allein die Frage, ob, wie und was überhaupt Menschen als „Geschlecht“ empfinden ist unglaublich komplex. Es spielt interne und externe Körperwahrnehmung rein, emotionale Grundstimmung, situationsabhängiges Verhalten, erlernte und erlebte Muster und die mit ihnen verknüpften positiven und negativen Gefühle, und das alles komplex verwoben mit gesellschaftlichen Konventionen, die alles und alle binär vergeschlechtlichen.

Geschlecht als nur männlich oder nur weiblich ist vollkommen unzureichend für Menschen, die sich nicht eindeutig dem einen oder anderen zuordnen können. Natürlich beschäftigen sie sich dann damit, denn alles, was emotional nicht passt bzw unzufrieden macht, wird dadurch immens wichtig. Geschlecht, Job, Familie, Beziehung, Sex.

Es ist vergleichsweise sehr einfach, in einem binären Geschlecht zu leben, trans oder nicht. Die Welt ist darauf eingerichtet, du kannst dich darin bewegen wie ein Fisch im Wasser. Es gibt unzählige Vorbilder und Vorgaben, Alltagsrituale, Strukturen und Räume, die entsprechend gelabelt sind. Die trans Hauptfrage ist, ab wann du dich traust, die andere zu benutzen und ob das klappt.

Wenn aber beim besten Willen weder das eine noch das andere passt, dann bist du erst mal auf dich selbst geworfen, dich zu beobachten, zu finden, irgendwie zu positionieren. Sprich: Im Gegensatz zu gender-binären Personen müssen wir nichtbinären an dieser Stelle sehr viel stärker über uns nachdenken. Deshalb kommen wir auch zu vielen individuellen Erkenntnissen, die binäre Menschen gar nicht benötigen.

Einige stellen fest, dass die geschlechtliche Empfindung zwischen und_oder ausserhalb von männlich und weiblich fluktuiert; genderfluid. Einige bemerken, dass die Intensität stark schwankt, also auch die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung; genderflux. Einige finden keinen Bezug zu männlich/weiblich sondern verknüpfen ihr Gender anderswo. Zum Beispiel autigender, weil ihr neurodiverses Gehirn die Welt ganz anders wahrnimmt.

Diese Wahrnehmungen sind erst mal valide, Punkt. Es ist die ihnen bestmögliche Beschreibung dessen, was ihnen die Welt als geschlechtliche Positionierung abverlangt. Wenn cis und_oder binäre Menschen damit nichts anfangen können: Deren Problem. Deshalb sind sie noch lange nicht pathologisch oder Folge irgendwelcher behandlungsbedürftiger Störungen.

Binäre Geschlechtsidentität ist ja nun auch nicht besser erklärbar. Nur häufiger und vor allem weniger hinterfragt. Aber bisher ist noch jedes Gespräch ausgehend von der Frage „wie stellst du denn fest, dass du [dein Gender] bist?“ über biologisches und Stereotypen schlussendlich bei „ich weiss das eben“ gelandet. Also bitte nicht so überheblich.

Wer es nicht nachvollziehen kann: Es gibt Lesestoff und Möglichkeiten zu fragen. Aber Be- und Verurteilungen dürfen wir uns verbitten.

Thema plurale Menschen

Ganz wichtig: Genderfluidität und Pluralität haben erst mal nichts miteinander zu tun. Zwei ganz verschiedene Konzepte, die zufällig gemeinsam auftreten können.

Ich kenne ein paar Systeme. Also mehrere Persönlichkeiten, die sich einen Kopf und Körper teilen. Und klar, der erste Impuls ist Schizophrenie, multiple bzw dissoziative Persönlichkeitsstörung, usw.

Zum einen: In von westlicher Psychologie der Neuzeit unbelasteten Gesellschaften wird/wurde das teilweise ganz anders betrachtet. Nicht als Problem, sondern als Gabe und Bereicherung. Das macht das Leben dieser Systeme erstaunlich viel einfacher, wer hätte das gedacht *SarkasmusFähnchen*.

Heisst: Nicht alle Systeme sind behandlungsbedürftig und vor allem ist nicht „Integration“ oder die Fabrikation einer Mono-Persönlichkeit automatisch das Ziel. Erfreulicherweise kommt die aktuelle Psychologie da langsam an. Die Hauptaufgabe ist auch hier wieder Klarkommen mit sich und der Aussenwelt.

Die praktischen Fragen mal beiseite gelassen, sind Systeme faszinierend vielfältig, weil sie in vielen Aspekten variieren können. Geschlechtlich sowieso. Auch in der Orientierung. Sogar körperlich. Es gibt Berichte über Unverträglichkeiten und variable Sehstärke. Unterschiedliche Handschrift und Sprache (im Sinne von Wortwahl, Stil, Stimme, Betonung) sind häufig.

Ja, bei vielen können Traumata in der Vergangenheit gefunden werden. Aber weder sind die zwangsläufig vorhanden, noch zwangsläufig ursächlich.

Die Persönlichkeiten können sich auch „einfach so“ entwickeln. Es ist einfach etwas stärker und etwas mehr voneinander getrennt, als bei uns Monopersonen (=scheinbar nur eine Persönlichkeit). Aber wir haben auch häufig im Job, in der Familie, im Verein, im Urlaub ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, Gefühlslagen, Auftreten usw. Viele von uns entwickeln Persönlichkeits-(An)Teile, die stark unterschiedlich und sogar widersprüchlich sind, also eigentlich schon Systeme. Nur eben nicht so ausgeprägt.

Viele von uns (Monos) reagieren reflexartig mit Anteilen, die uns gar nicht so angenehm sind, sondern Verhaltensmuster, die irgendwann mal nützlich und sinnvoll waren, heute aber eher nicht mehr. So verschieden ist das gar nicht.

Natürlich haben etliche Systeme ganz typische Probleme. Immerhin ist das eine Ein-Körper-WG, aus der eins nicht ausziehen kann. Auch eine Ein-Hirn-WG, was bedeutet, dass manchmal Persönlichkeiten nicht mitkriegen, was andere tun, denken, wollen.

Das sind aber praktische Probleme, die auch praktisch gelöst werden können. Systeme haben nicht zwangsläufig einen Leidensdruck oder wollen Teile von ihnen loswerden. Vielfach erfüllen einige auch Aufgaben, die andere oder eine „intergrierte“ Persönlichkeit nicht könnten. Oder sie bieten Empfindungen, die nur innerhalb dieser Persönlichkeit möglich sind.

Kurz: Systeme können sich als bereichert empfinden. Auch wenn es uns Monos schwer fällt, das nachzuvollziehen. Heck, ich hab schon Schwierigkeiten eine physische WG als Bereicherung zu empfinden! Aber das ist unser Problem. Nicht per se behandlungsbedürftig.


Gesamt-tl;dr: Nicht so voreilig mit Diagnosen und Behandlungsbedarf. Nicht so übergriffig mit Ratschlägen und Meinungen. Auch wenn die eigenen Erlebnisse belasten und eins andere schützen und bewahren möchte. Die meisten Menschen wissen, was sie wollen und brauchen. Und wenn nicht, dann sind sie in der Regel auf der Suche und brauchen keine Bevormundung. Die meisten Probleme sind nicht so dramatisch, wie sie aussehen. Und die meisten Lösungen sind nicht so einfach, wie sie scheinen.


(1) Disclaimer: Meine Erfahrung beruht auf Beratung und Moderation, die ich in mehreren SHG für trans und nichtbinäre Menschen mache, ausserdem in Online-Selbsthilfeforen. Ich habe etliche Menschen in der Transition begleitet, die von einer dreistelligen Zahl beobachtet und bin in einigen Fachgruppen zu trans Themen. Ausserdem lese ich unheimlich gerne Studien und Fachbücher zum Thema.

(2) Zwei Drittel der trans Bevölkerung sieht sich binär trans. Die meisten möchten eine HET wenigstens beginnen und dann sehen. Ein Drittel ist nichtbinär, da wird häufig sehr lange gehadert, welche Effekte eins eigentlich will und braucht und ob und wie das hormonell oder anders geht.

(3) Ich habe ein paar Konferenzen für Therapeutys erlebt, und selbst bei den speziell auf TIN* ausgerichteten war das Level der „Profis“ an Unverständnis, Vorurteilen und auf cis/bin/het basierenden Projektionen in der Regeln unglaublich fern von der Realität ihrer Klientys.

Warum Selbstbestimmung?

Hinweis: Dieser Beitrag wurde geschrieben, kurz nachdem das Bundeskabinett den Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) in Richtung Bundestag auf den Weg gebracht hat. Die Diskussionen kochen hoch, warum überhaupt Selbstbestimmung, haben Gutachten nicht doch ihre Berechtigung? Motto: Da kann ja jed*r kommen! Spoiler: Ja, aber tun nur die, die es betrifft.

Warum sind nicht nur Supportgruppen für trans Personen für eine voraussetzungsfreie geschlechtliche Selbstbestimmung, das heisst ohne Gutachten oder Fremdbeurteilung, z.B. beim Personenstandseintrag, sondern auch Fachgesellschaften, Studien, etc?

Vereinzelt plädieren doch auch trans Personen für irgendwelche Begutachtungen, also externe Validierung.

Es sprechen im wesentlichen drei Gründe gegen Begutachtungen

** 1. Sie funktionieren nicht ** Mehrheitsmeinung der psychologischen Fachgesellschaften: Es gibt keine Tests, um die geschlechtliche Identität eines Menschen zu beweisen oder zu widerlegen, einfach weil es keine objektiven Merkmale gibt. Sämtliche solche Gutachten laufen auf zwei Punkte hinaus.

Erstens den Vergleich mit geschlechtlichen Stereotypen. Entweder der begutachtenden Person selbst oder einer wie immer gearteten Liste von dritter Seite (mit der die begutachtende Person quasi die Verantwortung auslagert).

Sprich: Wie gut kann die beantragende Person die gewünschten Genderklischees glaubwürdig „vortanzen“.

Zweitens auf einen Test der Leidensfähigkeit. Wie viel Geld, Zeit, Nerven und Belastung durch Bürokratie und intime Fragen wird die Person für ein positives Gutachten in Kauf nehmen.

Gutachten sind also einerseits sexistisch und beruhen auf Vorurteilen, wie sie „eine richtige Frau“ bzw „ein richtiger Mann“ anzieht, bewegt, spricht, welche Sexualität si*er pflegt, usw. Wir wissen von Nacktbeschau, Fragen nach sexuellen Phantasien und Statements wie „wenn Sie hier kein Herrenhemd anziehen, kriegen Sie kein Gutachten“ (zu einem trans Mann in Jeans und T-Shirt).

Zum anderen sind sie eine Art numerus clausus bzw Begrenzungswerkzeug, mit dem die Zahl an Personenstandswechsel künstlich klein gehalten wird. Absichtlich nach meiner Einschätzung, denn die Dysfunktionalität ist natürlich auch behördlich lange bekannt.

Ach ja: Nichtbinäre Menschen finden seltenst Begutachtende. Erstens gibt es kaum welche, die das Thema nichtbinär überhaupt verstehen, zweitens gibt es keine Stereotypen, die vortanzbar wären.

** 2. Sie benachteiligen und belasten ** Menschen mit wenig Geld, wenig Freizeit (Arbeit, Kinder), wenig sprachlicher Gewandtheit, Problemen im Umgang mit Behörden, fragiler Psyche (zum Beispiel wegen Diskriminierungserfahrungen), falschem Wohnort (keine oder nur schlechte Begutachtende in Reichweite) und so weiter werden bei der Gutachterei erheblich benachteiligt. Gerade trans Personen und insbesondere junge ohne familiäre Unterstützung fallen häufig in mehrere dieser Kategorien. Nicht davon spricht gegen einen Personenstands- oder Vornamenwechsel.

** 3. Sie sind in der Praxis wirkungslos ** Für den Alltag, also die Begegnung mit cis Personen sind die Gutachten belanglos. Die meisten wissen nicht mal, wie ein Personenstandswechsel nach TSG abläuft. Wenn sie eine Person als „vermutlich nicht cis“ wahrnehmen, wird ihre Reaktion nicht von überstandenen Gutachten, Gerichtsentscheidungen oder Personenstandseintragungen beeinflusst. Häufig nicht mal vom vorgezeigten Ausweis – oh, kein Geschlecht eingetragen! – mit einem neuen Vornamen. Entscheidend ist ihr optischer Eindruck und ihre spontane Haltung gegenüber trans Personen.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass insbesondere trans Personen mit einer langen Geschichte von Selbst- und_oder Fremdablehnung, Zweifeln und Leidensweg aus den Gutachten eine immense Bestätigung, Validierung und Genugtuung ziehen. Diese Empfindungen will ich keinesfalls abwerten. Das Problem ist mehr, dass sowohl diese Gefühle, aber auch die Gutachterei auf der Vorstellung einer objektiv feststellbaren Geschlechtsidentität beruhen, die es einfach nicht gibt. Diese Idee erzeugt erst unsere Probleme, schickt uns über willkürliche und unsinnige Hürden, um dann eine völlig unnötige Erleichterung zu erzeugen. All das entfällt mit der Selbstbestimmung einfach.

Für die Selbstbestimmung hingegen sprechen:

** 1. Sie depathologisiert ** Keine Psychiater, keine Tests = Offiziell keine Störung, keine Krankheit, keine Anormalität, sondern einfach die persönliche Erkenntnis, in ein anderes Team zu gehören und entsprechend zu leben. Das machen wir uns ja auch nicht leicht, wegen der zu erwartenden Konsequenzen, also unseren Mitmenschen.

** 2. Sie löst die geschlechtliche Identität endgültig von Körper und Aussehen ** Das Verfassungsgericht hat in mehreren Entscheiden und Bemerkungen erklärt, dass der staatliche Geschlechtseintrag nichts mit Körper oder Aussehen zu tun haben darf, sondern maximal die im Alltag gelebte Rolle abbilden darf – und dass der Staat prinzipiell auch auf den Eintrag ganz verzichten könnte. Da, siehe oben, weder Psychogutachten, noch medizinische Beschau die Identität feststellen können, bleibt die Selbstaussage als einzige Möglichkeit übrig.

** 3. Sie beseitigt offiziell und explizit die Fiktion einer objektiven Geschlechtsidentität ** und
** 4. Sie gibt der Selbstaussage einer Person Priorität ** Das klingt vielleicht etwas esoterisch, ist aber ein riesiger Hammer. Eine Revolution und eine Mega-Aufgabe für uns alle. Der Staat erklärt, dass er nur noch einen frei wählbaren Eintrag hat, der ungefähr so wirkmächtig wie der Religionseintrag ist. Der gilt nur noch für ein paar übrig gebliebene Gesetze, aber ausdrücklich nicht im Alltag. Im nichtstaatlichen Bereich darf nicht nach Geschlecht diskriminiert werden (AGG, GG, etc). Auch nicht wegen trans. Jede Person hat das Recht, gemäss ihrer selbstbestimmten Identität respektiert zu werden; der Staat hält sich aus der Feststellung völlig raus. Wow.

Übersetzt heisst das: Handelt das irgendwie anders untereinander aus, aber respektvoll, fair, ohne Diskriminierung und – meine Lesart – nach Selbstzuordnung der Personen (weil: BVerfG).

Die Mega-Aufgabe ist die Aushandlung, wie wir in Zukunft mit nach Geschlecht aufgeteilten Situationen, Räumen, Veranstaltungen umgehen. Und untereinander generell. Können, wollen, dürfen wir diese dauernde Fremdzuschreibung aufrecht erhalten, von der Backtheke bis zur legendären Frauensauna? Wo ist die Grenze, bis zu der andere uns unsere Identität absprechen dürfen, bzw ihre eigene Ansicht über unsere Ansage stellen dürfen, wenn keine offizielle Feststellung mehr existiert und die auch nie irgendwie objektiv war?

Das wird sehr spannend und auch sehr kontrovers werden. Ist aber dringend notwendig. Ebenso wie die Selbstbestimmung über Registereintrag und Vornamen.

Selbstbestimmungsgesetz: „im übrigen ändert sich nichts“

Der am Donnerstag, 27.4. geleakte(1) Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) erzeugt viel Wut in der trans/nb Community. So wie ich das sehe hauptsächlich, weil jenseits des Offenbarungsverbots keine Schutzwirkung des Eintrags erklärt wird.

Zusammengefasst stehen auf den 68 Seiten nur:

  • Alle können ihren Eintrag ändern (und Vornamen, mit Fristen, usw)
  • Anspruch auf die Änderung alter Dokumente
  • Zwang-Outing kostet ggf Bußgeld

Das ist alles. Der Rest sind rechtliche Klarstellungen des Status Quo, also wie er aktuell ist! Keine Neuregelungen, keine Besser- oder Schlechterstellung von Personen durch Änderung des Eintrags oder eine bestimmte der vier Optionen.

Dies ist aus meiner Sicht ebenso genial wie gemein. Gemein, weil die Änderung eben nicht bewirkt, dass andere das eingetragene Geschlecht (ggf straf/bußbewehrt) respektieren müssen. Genial, weil damit auch keine Angriffsfläche geboten wird. (Ja, das ist ein Einknicken vor der anti-trans Lobby. Der gesellschaftlichen Realität der anti-trans-Lobby)

Der große Hammer ist für mich §6 (Wirkungen) und dessen Begründung (S.42ff), in denen explizit drin steht, was vielen gender-binären trans Personen und wohl 100% der cis Personen bisher offenbar nicht klar war:

*Der Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ist in der alltäglichen Praxis quasi wirkungslos.*

Wörtlich: In „Lebenssituationen […], in denen das im Personenstandsregister eingetragene Geschlecht weder bisher noch künftig entscheidend ist“. Das gilt bei allen, insbesonders privaten Dingen, Geschäften und Begegnungen, wo aus gesetzgeberischer Sicht der Personenstandseintrag nicht das verpflichtende Kriterium ist. *Selbst wenn es um geschlechtsdifferenzierte Dinge geht!* – wie bei zweigegenderten Räumen, Sport, Medizin, Anrede an der Backtheke.

Bedeutung hat er nur für direkte staatliche Leistungen und Handlungen. Quoten zwecks Gleichstellung, Rente, Wehrdienst, Justizvollzug.

Das ist aus zwei Gründen super krass. Zum einen steht dieses Rechtsverständnis der Bedeutung(slosigkeit) explizit in einer Gesetzesbegründung und ist damit quasi amtlich. Zum anderen gilt das nicht nur für Menschen mit geändertem Eintrag, sondern für alle. Cis, trans, genderdivers, alle.

In der Praxis wird Geschlecht durch die Deutung per Augenschein der Person gegenüber zugeschrieben. Immer. Wer nicht zufällig/absichtlich die Geburtsurkunde dabei hat (wie ich), hat keine Möglichkeit, den Personenstandseintrag nachzuweisen und, wie im Entwurf zwischen den Zeilen formuliert: Es macht erst mal keinen Unterschied.

Wenn die relevante Person gegenüber Deine Ansage nicht respektiert, hast Du keine Handhabe.

Das war bis jetzt so, das wird sich durch das SBGG nicht ändern, das müssen wir Stück für Stück in allen Bereichen durch Aktivismus und Diskussion angehen.

Die drei Seiten zu §6 machen da viele lange überfällige Fässer mit Themen auf.

Willkommen in meiner Enby-Alltags-Wirklichkeit.

Eine vielleicht unbequeme persönliche Meinung: Ein SBGG mit Schutzrechten und Akzeptanzpflichten für Dritte wäre meines Erachtens nicht durch den Bundestag zu bringen. Diese Minimalversion mit dem expliziten „alles andere bleibt wie es ist“ schon. Insofern bin ich froh, wenn bald alle ihren Personenstand und die Vornamen ändern können und hoffe auf sehr viele nicht-binäre Änderungen. Egal ob „divers“ oder Streichung.

(1) https://drop.allegutendinge.jetzt/

„Seid doch mal entspannter“

Sinans Woche brachte am 15.7. einen Youtube-Beitrag, in dem Sinan sinngemäß meinte, „wir“ (LGBTQIA+) sollten doch mal etwas entspannter sein, weil „wir“, bzw unsere Probleme, der Mehrheit doch ziemlich egal seien.

Ausserdem wähnte Sinan, dass Menschen, die Neopronomen benutzen, keine oder mehrere, sich ihrer selbst und ihrer Rolle nicht wirklich sicher seien.

Untertitel so ungefähr, die Hitze und Häufigkeit der Debatte seien ermüdend.

Ja nun…

Also abgesehen davon, dass das „der Mehrheit egal“ einigermassen stimmt, liegt Sinan reichlich falsch.

Was „den meisten Menschen“, also vor allem cis (het-bin-dya-mono-…) vermutlich nicht klar ist: Der Stress, sich als queere Person mit der nicht-queeren Mehrheit anzulegen, ist für viele von uns das kleinere Übel. Nämlich zur Alternative, im Mehrheits-System mitzuspielen.

Wenn wir nichts sagen, behandeln sie uns so, wie sie uns deuten, statt so wie es für uns leidensarm und richtig ist.

Ich bin mir meiner selbst – nonbinär, trans – sehr sicher. Vor allem, dass ich eben nicht „als Mann“ oder „als Frau“ gedeutet und dann wahlweise wie eine*r behandelt werden will, weil ich das nicht andauernd aushalte.

Das _muss_ ich immer wieder kommunizieren. Dazu _brauche_ ich Pronomen und andere Hilfsmittel wie Sternchen, sonst bleibe ich unsichtbar, werde nicht mitgedacht, was den Stress für mich wieder erhöht.

Die Vielzahl an Pronomen, die trans und nonbinäre Menschen verwenden ist ein Problem der binär durchgenderten deutschen Sprache, wo sogar der Apfel und die Birne vergeschlechtlicht werden, vor allem aber Menschen. Es gibt keine neutralen Formen, deshalb experimentieren wir.

Das heisst nicht, dass wir uns nicht sicher wären, sondern im Gegenteil, dass die Sprache für uns noch unzureichend ist. Schweden hat das „hen“ eingeführt, im englischen ist singular they/them inzwischen gebräuchlich.

Also: „Seid mal etwas entspannter“, so kam es jedenfalls rüber, ist ein hohler Rat.

Solange unsere Existenz in Frage gestellt und unsere Bedürfnisse derart ignoriert und wir effektiv durch Gewalt bedroht werden, sind wir so entspannt, wie es nur geht. Wenn „ihr“ uns einfach akzeptiert und wir uns den geringen Aufwand teilen, kommen wir prima klar und können uns den gemeinsamen Problemen widmen. Auch denen der Geschlechterungerechtigkeit.

Wenn IT Namensfelder ganz perfekt richtig machen will…

Das Webportal meiner Versicherung war doch sperrig, weil es meine Daten für „fehlerhaft“ hielt – weil ich in deren DB ohne Anrede bin. (Ja, ich bin deshalb tatsächlich über sechs Monate nicht an meine Daten gekommen. Hat deren IT mir bestätigt.)

Sie haben es geändert! Alles geht.

Aber das Formular für Namensänderung ist eine IT-Perle!

Bild 1: So sieht’s aus.

Ein Eingabeformular für Name und Geburtsdatum. 

Zusaätzlich zu Vorname und Nachname können "Titel", "Vorsatz" und "Nachsatz" aus Drop-Down-Listen ausgewählt werden.

Die Auswahllisten (Inhalte in Bild 2) sind lang, aber sicher nicht vollständig.

Was fällt auf? Die Anrede, die Ursache des Problems, ist raus. Weg. Gibt’s nicht mehr. Braucht offenbar keinein ?.

Aber die Listen für „Titel“, „Vorsatz“ und „Nachsatz sind bemerkenswert. Kein Scherz.

Die Liste "Titel" beinhaltet 112 Einträge.
Die Liste "Vorsatz" 67.
Die Liste "Nachsatz" 6.

Titel sind u.a. Prinz, Vikar, Dekan, Dr. Dr. Dr., aber zum Beispiel nicht "Dipl-Inform"

Vorsatz sind z.B. von, zu, de la, auf dem.

Nachsatz sind römisch 1 bis 3, jun und sen.

„Aber jetzt ist es bestimmt perfekt für alle“ – Nope. Mal abgesehen davon, dass der Vorname nicht änderbar ist, der Nachname schon (das mit dem Heiraten kennen die meisten, Vornamensänderungen offenbar – noch – nicht).

Die Listen sind bei weitem nicht vollständig, der Ärger bei fehlendem „Dipl.Inform“ oder ähnlichem sicher.

Ich empfehle deshalb „Falsehoods, programmers believe about names“ … und Freitextfelder.

Artikel zum „abgesagten Vortrag“ an der Humboldt-Uni

Es geht um den Vortrag einer Biologie-Doktorantin (V.) der Humboldt-Uni zur „Langen Nacht der Wissenschaften“. Diese Person hat sich in der Vergangenheit u.a. auf Twitter durch trans-feindliche und TERFige Statements hervorgetan. Da ihr Vortrag mit dem Titel

Stichtag ist der 30. Juni 2022, an dem der arbeitskreis kritischer jurist*innen an der Humboldt-Uni den Protestaufruf veröffentlichte und die HU daraufhin aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ den Vortrag absagte. Der akj veröffentlichte am 4. Juli 2022 ein ergänzendes Statement.

Wichtig bei den Artikeln ist auch das Datum der Veröffentlichung, weil Protest gegen V.’s Transfeindlichkeit und ihre Hetze, Stalking, Doxxing gegen einzelne pro trans Personen schon lange existierte. Es ist daher seltsam, dass V.s Vortrag offenbar ungeprüft ins Programm kommen konnte.

Stellt sich raus: Der Vortrag war ziemlich sicher als Provokation gedacht, der Protest einkalkuliert. Es ging nie um Wissenschaft. Das ist immer nur der Aufhänger, um rechte, „naturalistische“ Weltbilder zu pseudo-legitimieren. Pseudo, weil die Wissenschaften allesamt viel weiter sind. Interessant auch, dass diese Weltbilder allesamt anti-feministisch sind, was TERFs anscheinend nicht zu stören scheint.

Einordnung der Person, ihres Vortrags und ihrer anti-trans aktivistischen Tätigkeit vor dem 1. Juli

Belltower.news, Sofie Heiberger, 22-05-30: „Natürlich antifeministisch: Argumente gegen die Aussagen von Biologist:innen

Belltower.news, Kira Ayyadi, 22-06-02: „Rechtsalternativer Hass: Neuer gemeinsamer Nenner? Hass auf trans Frauen

Reaktionen nach dem Aufruhr

Berliner Zeitung, Kommentar von Susanne Lenz, 22-07-03: „Vortrag über Geschlecht und Gender abgesagt: Cancel Culture an der Humboldt-Uni“ – Lenz relativiert V. und will explizit nicht inhaltlich auf die Debatte um V eingehen, meint aber zum Thema trans, das bei V ja angeblich gar nicht vorkommen sollte, im letzten Absatz, dass ja noch nicht alles gesagt sei; völlig verkennend, dass es um Hass, Hetze und Menschenfeindlichkeit geht. Siehe unten auch das Interview von Lenz mit Krahe.

Berliner Zeitung, Sonja Dolinsek, 22-07-04: „Anti-Gender-Vortrag an der HU Berlin: Von Cancel Culture kann keine Rede sein

Frankfurter Rundschau, Katja Thorwarth, 22-07-05: „Vortrag von Biologin abgesagt: „Personen wie Vollbrecht geht es nie um biologische Zweigeschlechtlichkeit“

Berliner Zeitung, 22-07-05: „Sexualwissenschaftler zur HU: „Gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt““ – Nein, in der menschlichen Biologie gibt es nicht nur zwei Geschlechter und Biologie greift zu kurz.

Berliner Zeitung, Franca Parianen, 22-07-05: „Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt

infranken.de, Io Görz, 22-07-06: „Humboldt-Universität: Transfeindlicher Vortrag wird nachgeholt – wie war das mit Cancel Culture?

Belltower.news, Sascha Krahnke, 22-07-06: „Transfeindlichkeit: Wie ein abgesagter Vortrag transfeindliche Feminist*innen und Rechtsaußen zusammenbringt

Spiegel, Sascha Lobo, 22-07-06: „Geschlechterdebatte Wie gut finden Sie Zwangssterilisation?“ – Trans existiert, get used to it.

Die Zeit, Dr. Maria Mast & Lena Völkening, 22-07-07: „Debatte um Zweigeschlechtlichkeit: Mädchen oder Junge?“ – Nicht sehr ergiebig, gemässigte Aufklärung aber kein Lösungsansatz.

Tagesspiegel, Tilmann Warnecke, 22-07-08: „Ministerin kommt zur Vollbrecht-Nachholveranstaltung an HU Berlin; Genderfragen, Penis-Tweets und elektrische Fische

Berliner Zeitung, Susanne Lenz interviewt Rüdiger Krahe, Doktorvater von Vollbrecht, 22-07-06: „HU-Biologe: „Der Streit um Zweigeschlechtlichkeit ist so unnötig wie ein Kropf“ – entweder Scheuklappigkeit oder absichtliche Pseudo-Naivität bei Krahe. Bei Lenz vermute ich Absicht wg des Artikels vom 3.7.

Warum?

Erstens besteht Die Biologie nicht nur aus der Zeugung, sondern erforscht auch die Entwicklung aller (drei) beteiligten Individuum und ihre mögliche Variantenbreite. Und da gibt es eben ein breites Spektrum mehrdimensionaler Vielfalt. Inklusive Individuen, die weder Spermien noch Eizellen produzieren, wo die Einteilung schon wieder schwammig wird und ein Rückzugsgefecht auf potenzielle Zeugung beginnt, um sie irgendwie zweizuteilen.

Zweitens wollen V. und ihre Genossys eben nicht bei der reinen Zeugung bleiben, sondern das Modell reiner, eindeutiger Zweigeschlechtlichkeit von der Zellebene bis auf die gesellschaftliche Ebene – Gender – heben und generalisieren. Nennt sich Biologismus. Natürlich benutzen sie absichtlich den mehrdeutigen Begriff Geschlecht. Selbst wenn V. es in dem Welt-Artikel abwiegelt.

Ehrlicherweise und auf der Höhe der Erkenntnisse hätte Krahe wohl eher sagen müssen: „Auf der reinen Zellebene beobachten wir bei Menschen zweigeschlechtliche Zeugung. Daraus lässt sich allerdings nicht auf weiteres schliessen, weder auf die Eltern-Individuen, noch auf das Kind und schon gar nicht auf die gesellschaftliche Interpretation von Körper als Geschlecht“ – und dann in der Fachsprache tunlichst Begriffe vermeiden, die in der Alltagssprache mehrdeutig sind.

Dies alles unterschlägt Krahe. Kann Fachblindheit sein, kann Einverständnis mit V.’s TERF-Agenda sein. Müsste eins recherchieren.

Ältere und andere Texte zum Thema „Wissenschaftsfreiheit? Meinungsfreiheit?“

Schon 21-12-06: Forschung und Lehre, Christian von Coelln: „Wissenschaftsfreiheit: Beschneidet die „Cancel Culture“ die Freiheit der Wissenschaft?

Spiegel, Tanya Falenczyk, 22-07-02: „»Cancel Culture« Ja, wir Jungen wollen nichts Falsches mehr sagen – und das ist auch gut so“ – Reaktion auf einen Vorwurf von Thomas Gottschalk

Seriöse Wissenschaft zum Thema

(2008) „Report of Fertility in a Woman with a Predominantly 46,XY Karyotype in a Family with Multiple Disorders of Sexual Development“ – Genetisch männliche Mütter und weitere Vielfalt in einer Familie

(2014) „Sex Determination: Why So Many Ways of Doing It?“ (Bachtrog D, Mank JE, Peichel CL, Kirkpatrick M, Otto SP, et al. (2014) Sex Determination: Why So Many Ways of Doing It? PLoS Biol 12(7): e1001899. doi:10.1371/journal.pbio.1001899)

(2010) Heinz-Jürgen Voss: „Making Sex Revisited, Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ – ein ganzes Buch zum Thema. Historisch und aktuell. Von Voss gibt es auch eine Literaturliste zum Stand der Forschung (Stand 2018).

(2015) Nature, Claire Ainsworth: „Sex redefined, The idea of two sexes is simplistic“ – wunderbare Beispiele an körperlicher Vielfalt. Deutsche Übersetzung: Link, PDF.

(2021) Forrest Valkai (engl) 30minütiger Science Talk auf Youtube, wie komplex „Sex“ (=“biologisches Geschlecht“) bereits auf der genetischen Ebene ist, warum ein einzelner binärer Marker dafür unzureichend ist und ein kleiner Ausflug zu möglichen biologischen Faktoren für Gender.

22-07-08 Heinz-Jürgen Voss: „Die vielen Geschlechter der Biologie – Vortrag und Diskussion zur Debatte an der Humboldt-Universität zu Berlin„. Aufzeichnung auf Youtube, einführende Literaturliste.

Die Ursache

Der Vortrag bei Youtube, gehalten am gleichen Tag im Kanal einer österreichischen TERF – banale 9te Klasse Biologie, die etliches auslässt, sich inhaltlich widerspricht und letztlich den Begriff „Geschlecht“ als Eigentum ihrer Simpel-Biologie claimen will.

Die Zeit, Marie Vollbrecht, 22-07-06: „Humboldt-Universität: Der Vortrag, den ich nicht halten konnte“ – Eine weichgespülte Rechtfertigung, die natürlich ihre anti-trans Agitation auf Twitter und anderswo auslässt. Siehe die Artikel bei Belltower et.al, um das einzuordnen.

Was nach Vornamen & Personenstand zu ändern ist

Eine wahrscheinlich unvollständige Liste. Hinweise gerne an jaddy(at)enby-box.de.

Wenn nur der Personenstandseintrag (Gender, m/w/d/_) geändert wurde, entfallen viele Änderungen, weil der amtliche Geschlechtseintrag keine Rolle spielt. Da aber meist eine Anrede gespeichert wurde, sollte die Stelle informiert werden. Das ist in der Regel formlos möglich, aber häufig nicht sofort erfolgreich.

Die mit „(*)“ markierten Dokumente/Stellen müssen auf jeden Fall angepasst werden, auch wenn nur der Personenstand geändert wurde.

Bei Papierakten zB in ärztlichen Praxen sollte der alte Name/Personenstand nicht durchscheinen, wenn eins nicht dadurch geoutet werden möchte. Einfaches Durchstreichen würde also nicht ausreichen.

1. amtliche Dokumente

  • Personalausweis & Meldebehörde
  • Reisepass(*)
  • Führerschein
  • Kfz-Briefe. Auch Anhänger, Motorräder, Wohnwagen. Der Schein wird dann auch geändert (Achtung bei neueren Autos die kurz vor dem Verkauf stehen – Wertminderung durch zu viele Vorbesitzer)
  • Kraftfahrtbundesamt in Flensburg: Daten kontrollieren weil dort schon mal ein Fehler passiert
  • Grundbuch bei Eigentum von Wohnung, Haus oder Grundstück
  • Wehrdienstzeitbescheinigung
  • Testamente, sowohl eigene, als auch die in denen eins steht
  • Eintragungen im Handelsregister

2. Unterlagen bei Steuer & Sozialversicherungen

  • Finanzamt
  • Steuerkarte/-nummer
  • Sozialversicherungsnummer(*) (nur beim Wechsel von w zu d oder _ bleibt die Nummer gleich)
  • Rentennachweise
  • bei Minderjährigen: Meldung an die Familienkasse wegen Kindergeld

3. Bankdaten

  • Bankkonten
  • Paypal (Achtung, da gab es schon viele Probleme)
  • EC-Karte/Kundenkarte
  • Kreditkarten
  • Sparbuch, Depots
  • Kredite
  • Einzugsermächtigungen
  • Daueraufträge
  • Schufa, Creditreform

4. Gesundheitssystem

  • Krankenkasse(*) da gibt es eine neue Karte. Rechtzeitig neues Foto hinschicken oder Karte ohne Bild fordern.
  • Ärztliche Praxen (mit neuer Krankenkassenkarte)
  • Impfpässe und Zertifikate
  • Patient*inverfügungen
  • Vollmachten für Pflege etc.
  • Schwerbehindertenausweise u.ä.

5. Arbeitswelt

  • Personalabteilung informieren, auch wegen Finanzamt
  • Arbeitsvertrag
  • Mailadresse, Firmeneinträge, Profile
  • Zugangskarten, ggf Schul- und_oder Studierendenausweis
  • Zeugnisse und Zertifikate, auch ältere, siehe unten
  • Gewerkschaftsmitgliedschaft
  • Berufsverbände
  • Online-Profile (Xing, Linkedin, …)

5. Kundenkarten / Mitgliedsausweis / Bonuskarten

Jegliche Art von Verträgen wie:

  • Versicherungen: Privat, Haus/Wohnung, Kfz (alle! S. Kfz-Briefe)
  • Arbeitsvertrag
  • Gesellschaftsvertrag
  • Mietvertrag
  • Hausverwaltung
  • Strom
  • Heizung Gas/Öl
  • Wasser
  • Entsorgungsbetriebe (Müll)
  • Schornsteinreinigung
  • Telefon und Internet, Festnetz, DSL, Mobil
  • Post- und Paketdienst-Ablageerlaubnisse, Paketstation
  • E-Mail Adresse(n)
  • Online-Konten… (Google, Amazon, Apple, Netflix, ebay, …)
  • Kabelfernsehen, GEZ
  • Abonnements, Zeitschriften
  • Vereinsmitgliedschaften, Automobilclub
  • Bahn-Account, ÖPNV, …

6. Zeugnisse und Zertifikate

  • Schul- & Universitätszeugnisse und Abschlüsse
  • Ausbildungsnachweise, Berufsschule
  • Facharbeity-, Gesell:innen- und Meister:inbriefe
  • Arbeitszeugnisse, Zertifikate, Schulungsnachweise
  • Weiterbildungen, Punktekonten

Bad Science: Der „trans-Klassifikator“

Aus der Rubrik „american scientists have found out“: „Brain Sex in Transgender Women Is Shifted towards Gender Identity„. Übersetzt: „Das Gehirngeschlecht(1) von trans Frauen tendiert eher zu ihrer Geschlechtsidentität“.

Ach du große Neune! Das Ding qualifiziert sich nicht nur als bad science, sondern meiner Ansicht nach deshalb auch als extremely dangerous science.

Um’s mal kurz zu fassen: Wenn ich das richtig gelesen habe, haben sie ein neuronales Netz, also das was landläufig als „KI“ bzw „machine learning“ bezeichnet wird, mit MRI-Bildern(!) aus einem offenen Datensatz (also von extern) von 242 cis Männern und 305 cis Frauen trainiert, so dass es anhand der Bilder das parallel dazu trainierte Geschlecht ausgeben konnte.

Das ist noch keine Kunst, denn auf welche Merkmale das Netz anspringt ist nicht klar(2). D.h. es ist ganz wichtig zu wissen, dass dieses Netz nicht „das Geschlecht“ erkennt, sondern nur, ob es zu einem Bild mal gelernt hat, was es dazu antworten soll. Die Antworten sind auch quasi nie 100%ig, sondern Schätzwerte („zu 80% sicher, dass die gewünschte Antwort ‚weiblich‘ sein könnte“).

Danach haben sie MRI-Bilder von je 24 cis Männern, cis Frauen und trans Frauen gemacht und dem Netz vorgelegt. OK. Das Netz „klassifizierte“ dann laut Aussage im Artikel die „trans Bilder“ als „leicht verschoben in Richtung weiblich“. D.h. die Schätzwerte, s.o., lieferten eine solche Tendenz.

Daraus lässt sich aber nicht die Aussage im Titel des Papers ableiten!

Erst mal der gesammelte methodische Unfug:

  • 24 ist keine hinreichende sample size.
  • Es ist nicht klar, was genau das Netz eigentlich als „male“ oder „female“ einordnet.
  • Die Streuung und die Überlappung der samples ist riesig.
  • Es ist nicht mal klar, was genau die Bilder eigentlich zeigen. Offenbar sind es statische Aufnahmen von Hirnstruktur, keine funktionale Dynamik.

Dann der neurologische Unfug:

  • Die trans Frauen waren zwar vor der HET, aber sich offenbar selbst sicher in ihrer Identität, sonst hätten sie sich wohl nicht zur Teilnahme gemeldet und wären auch ausgewählt worden. D.h. sie orientieren sich im Alltag wohl eher an „weiblichen“ Stereotypen. Das bedeutet auch, dass sich ihr Hirn entsprechend anpasst(3) – an was auch immer.
  • Von den cis Trainingsdaten ist der Hintergrund unbekannt, also zB Bildung, etc. Auch nicht, ob sie sich definitiv als cis einordnen. Es könnte also gut sein, dass das Netz zum Beispiel auf minimale Unterschiede in den Alltagsbeschäftigungen reagiert, wie bei den Taxihirnen(3).

Und daraus folgt das gefährliche: Irgendein Heiopei der stable genius Klasse Korte kommt sicher auf die Idee, daraus einen generellen trans Klassifikator machen zu wollen, mit dem dann zukünftig „objektiv“ die transness gemessen wird. Dann muss der MDK nur noch in die BGA schreiben, dass ab Transfaktor 0,6 dieses übernommen wird und ab 0,8 jenes, aber wenn es bei deinem Hirn leider nur 0,5 trans oder weniger misst, bist du leider raus, du Fake.

Und das ganze durch eine minimale statistische Abweichung in einer Pixelbeurteilung, von der völlig unklar ist, was genau die eigentlich klassifiziert.

Zu trans und MRI schaut zum Beispiel mal diese beiden Videos.

MaiLab: „Weibliches vs. Männliches Gehirn“ und „Die Wissenschaft hinter Transgender„.

Die machen zusammen mit der wissenschaftlichen Diskussion (in den Links) sehr schön klar, wo allein die wissenschaftliche Problematik liegt. Naja, und die möglichen gesellschaftlichen Folgen hab ich ja beschrieben.


(1) „Gehirngeschlecht“ ist schon im Ansatz Unfug, denn was auch immer da gemessen wird, ist immer ein untrennbares Konglomerat aus Biologie, Neurologie, Psychologie und Soziologie. Die Benutzung des Gehirns verändert das Gehirn und jegliche „geschlechtlliche“ Klassifikation beruht letztlich auf soziologischen Stereotypen, die wir Geschlechtern zuordnen. D.h. wer „weiblich“ denken will, verändert das Gehirn zum „weiblichen“. Daraus ist keine Kausalität ableitbar.

(2) es gibt bei solchen ML-Sachen immer mal wieder Überraschungen. Bei Bildern als Trainingsgrundlage bspw minimale, für Menschen nicht erkennbare HIntergrundmuster oder Kennzeichen. Die „KI“ achtet nicht auf die Sachinfo, wie es ein menschliches Bewusstsein tun würde, sondern bewertet reine Pixel.

(3) MRI Scans von Taxifahrys zeigen ein „Taxifahrgehirn“. Die Leute kommen aber nicht damit auf die Welt, sondern das Hirn wird durch Übung dazu. Eine Klassifikation vorher, ob eine Person ein Taxifahrgehirn hat, wird notwendigerweise scheitern. Das wäre also ein vollkommen untauglicher Test auf Taxifahr-Eignung, genauso wie ein MRI-Bild ein untauglicher Test auf „transness“ ist. Mit oder ohne „KI“.

Die Menschen hinter den Sternchen

Auszug aus einem Vortrag vom November 2021 zum Thema „gendern“.

Bei all den Diskussionen über „*“, „_“ und „:“ werden häufig die Menschen übersehen, um die es geht. Mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, welche Ausgrenzungen eigentlich abgebaut werden sollen und wie absurd einige Gewohnheiten und Annahmen sind, bei denen die Sprache nur ein Schritt zur Sichtbarmachung ist.

Zu einem Thementag „Gendern“ habe ich deshalb einen 12-minütigen Schnellkurs zu den Menschen hinter den Sternchen (TIN1) gegeben.

Das Video kann hier gesehen werden: (Link). Leider ist es noch nicht untertitelt, so dass die Audiospur unerlässlich ist. Das Video steht unter Creative Commons Lizenzvertrag.


1) TIN; trans, inter, nicht-binär – und ein bisschen „divers“.

„Welche Privilegien?“

Cis-binäre Normalitäten

Menschen nehmen häufig nicht wahr, welche Hindernisse und Probleme sie nicht haben, weil die Welt quasi „wie für sie gemacht ist“, nämlich für cis1-binär1-dyadische1 (und natürlich2 auch weiss, abled, autochton, hetero, usw.), oft „die Mehrheit“ genannt.

Falls du zu dieser Mehrheit gehörst, kannst du im folgenden mal schauen, welche Privilegien du im Vergleich zu trans, nicht-binären, inter und queeren Menschen geniesst. Nein, das gibt Dir keine Vorteile innerhalb der Mehrheit, aber im Gegensatz zu „uns“ brauchst du keine Energie zusätzlich aufzuwenden.

Entscheidend dabei ist, dass diese Privilegien ausschliesslich darauf beruhen, wie du „gelesen“ wirst, also wie andere dich einsortieren. Die Probleme und Diskriminierungen entstehen nicht dadurch, wie eine Person ist, sondern wie andere handeln.

Falls du wissen möchtest, welche Aufwände und Widerstände „wir“ zusätzlich haben, empfehle ich die „kleine Liste von Regeln und Hürden für binäre und nicht-binäre trans Personen„.

Alltagstätigkeiten

  • Du kannst öffentliche Einrichtungen wie z.B. Toiletten und Umkleiden bei Sport und im Kaufhaus benutzen, ohne Angst vor Anstarren, Beschimpfungen, Beklemmungen, „Falsch hier“ Bemerkungen, verbaler und/oder physischer Gewalt, Problemen mit Ordnungpersonen. Du kannst einfach aus einer Laune heraus mit deinen Freund•innen unterwegs sein und weißt, dass es Toiletten gibt, die du nutzen kannst.
  • Du kannst Kleidung, Schuhe, Accessoires kaufen, ohne dass dir der Service verwehrt wird, die Verkäufer•innen sich über dich lustig machen oder du nach deinen Genitalien befragt wirst. Das Angebot enthält ausreichend Auswahl in passenden Größen.
  • Du kannst relativ unaufällig durch die Welt laufen. Du wirst nicht andauernd angestarrt, es wird nicht über dich getuschelt, auf dich gezeigt oder über dich gelacht aufgrund deines geschlechtlichen Ausdrucks. Insbesondere brauchst du wegen deines geschlechtlichen Ausdrucks keine Gewalt zu befürchten.

Behörden und Institutionen

  • Du kannst in Formularen dein Geschlecht bzw. deine Anrede auswählen. Niemand widerspricht deinen Angaben.
  • Niemand bewzeifelt deine Ausweispapiere oder verweigert dir deswegen Dienstleistungen in Krankenhaus, Bank, Post oder anderen Institutionen. Du hast keine Beklemmungen, sie vorzuzeigen.
  • Du kannst davon ausgehen, dass du einen Job bekommst, eine Wohnung mieten kannst oder einen Kredit aufnehmen, ohne dass dir dies aufgrund deiner Geschlechtsidentität/-ausdrucks abgesprochen wird.
  • Du kannst dich bei Sportvereinen anmelden und dich dort Gruppen, Teams oder Ligen zuordnen. Deine Zuordnung wird nicht in Frage gestellt.
  • Sicherheitskontrollen bereiten dir keine Sorgen, aufgrund deiner geschlechtlichen Identität oder deines Körpers falsch behandelt zu werden
  • Falls du Kinder hast bist du in den Geburtsurkunden mit dem richtigen Namen und Geschlecht eingetragen. Kitas und Schulen erkennen deinen Status und Elternschaft problemlos an.

Medizin

  • Deine Identität wird nicht in medizinischen Katalogen geführt (z.B. ICD 10 „gender identity disorder“)
  • Du musst dich keiner umfassenden psychologischen Einschätzung unterziehen, um grundlegende medizinische Versorgung zu erhalten.
  • Du kannst davon ausgehen, dass Mediziner•innen sich mit deinen Themen auskennen und du angemessene Behandlung bekommst.
  • Die Organisation von Praxen, Krankenhäusern und Rettungsdienst kann dich problemlos unterbringen.

Rechtfertigung und Existenz

  • Du musst deine Eltern / Familie nicht von deinem Geschlecht überzeugen und•oder dir erst die Liebe und den Respekt deiner Eltern und Geschwister neu verdienen.
  • Du musst niemanden andauernd daran erinnern den richtigen Namen und die richtigen Pronomen zu verwenden.
  • Du kannst annehmen, dass alle, die du triffst deine Geschlechtsidentität verstehen und nicht denken, du seist verwirrt oder verdammt.
  • Unbekannte Menschen gehen nicht davon aus, dass sie dich nach deinen Genitalien oder deinem Sexleben fragen dürfen.
  • Unbekannte Menschen reden dich mit dem Namen an, den du ihnen sagst und fragen dich nicht nach deinem „richtigen Namen“ (Geburtsname), mit der Annahme, dass sie das Recht haben dich dann so anzureden.
  • Falls du religiös bist hat deine Religion keine Probleme mit deiner Existenz, deiner Identität, deiner Sexualität oder Familienleben.

Repräsentation

  • Du fühlst dich bei allgemeinen Anreden und Anschreiben jeweils mitgedacht und angesprochen.
  • Du findest Vorbilder und Vordenker•innen mit deiner Identität, denen du nacheifern kannst.
  • In Fersehen, Filmen und Büchern werden Menschen deines Genders richtig dargestellt und deine Geschlechts-Identität nicht lediglich in den Fokus gerückt, wenn es um dramatische Handlungen oder Pointen in einem Witz geht
  • Dokumentationen bezüglich deines Genders bezweifeln nicht deine Existenz, deine Berechtigung so zu leben, deinen Anspruch auf Teilhabe und Respekt. Sie stellen dich nicht als Krankheitsbild oder exotische Kuriosität dar
  • Dein Gender wird in Statistiken und Umfragen berücksichtigt

Beziehungen und Sexualität

  • Wenn du eine Person datest, kannst du davon ausgehen, dass sie dich nicht als Kuriosität oder Fetisch ausgesucht hat (z. B. nur um einmal Sex mit einer trans Person gehabt zu haben).
  • Du kannst Orte und Veranstaltungen betreten, die nur für ein binäres Geschlecht sind und wirst nicht aufgrund von trans sein ausgeschlossen. Du musst nicht verteidigen auch Teil von „Queer“ zu sein. Schwule und Lesben werden nicht probieren dich auszuschließen von „ihrem“ Kampf um gleiche Rechte, aufgrund deiner Geschlechtsidentität.
  • Du kannst flirten, unverbindlichen Sex haben oder jede Art von Beziehung eingehen ohne zu fürchten, dass du aufgrund deines biologischen Status’ zurückgewiesen oder attackiert wirst, noch wird es deine•n Partner•in dazu bringen seine•ihre sexuelle Orientierung infrage zu stellen.
  • Wenn du Opfer eines Verbrechens wirst, wird dein geschlechtlicher Ausdruck nicht als Rechtfertigung genutzt („gay panic“, „trans panic“), noch als Grund die Täter•innen zu entschuldigen.
  • Deine Glaubwürdigkeit als Mann•Frau•Mensch hängt nicht davon ab, wie viele Operationen du hattest oder wie gut dein Passing3 ist.
  • Du wirst auf der Straße nicht als Sex-Arbeiter•in aufgrund deines geschlechtlichen Ausdrucks eingeordnet.
  • Du kannst weiterhin behaupten, dass Anatomie und Geschlecht unumstößlich miteinander zusammenhängen, wenn du mit Kindern darüber redest, anstatt die Komplexität des Themas zu erklären.

1) cis, binär, dyadisch sind das Gegenstück zu trans, a_binär und inter, also Menschen, die mit ihrem bei Geburt zugeordneten Geschlecht zufrieden sind, eindeutig Mann oder Frau sind und körperlich „eindeutig“, was Geschlechtsmerkmale angeht.

2) Viele der Benachteiligungen, Diskriminierungen und Anfeindungen sind übergreifend, d.h. für verschiedene Merkmalsgruppen ähnlich. Ausserdem können Menschen mehrfach betroffen sein, zum Beispiel wenn sie als trans / queer und nicht-weiss o.ä. gelesen werden.

3) „Passing“ (engl. „durchgehen“, „(Test) bestehen“) bedeutet, von anderen äusserlich „richtig“ einsortiert zu werden, also als „Mann“ oder „Frau“, so wie du selbst dich identifizierst. Nicht-binäre Personen können quasi nie „passen„, weil die meisten Menschen gar nicht auf die Idee kommen, weder Mann noch Frau vor sich zu haben.