Analyse des BSG Urteils „Mastektomie für nichtbinäre Person“

Das Bundessozialgericht hat die schriftliche Urteilsbegründung zum Verfahren B 1 KR 16/22 R veröffentlicht. Eine nichtbinäre Person wollte die Kosten für eine Mastektomie von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet bekommen. Dies wurde letztinstanzlich angelehnt. Die Begründung hat es in sich, weil sie im Endeffekt ab sofort jegliche Kostenübernahme-Bewilligungen für alle Transitionsmaßnahmen stoppt.

Das wird jetzt ein sehr langer Beitrag, deshalb hier der tl;dr, wie ich das Urteil lese:

Laut dem Urteil dürfen die Kassen eigentlich seit ca. 2019 schon keine Transitionsmassnahmen mehr bezahlen, weil sich ab da die gesamte trans Behandlungsmethodik geändert hat! Seit Erscheinen der S3-Leitlinie, nach der Ärztys arbeiten müssen. Also die Medizin hat sich modernisiert. D.h. die heutige Vorgehensweise, aus der die Indikationen und Gutachten kommen, ist vom GBA nicht abgesegnet. Und was der GBA nicht erlaubt hat, dürfen Kassen nicht bezahlen.

Das alte (GBA-erlaubte) Behandlungsmodell war: „(binärer) Transsexualismus = Krankheit = binäre Totalbehandlung“. Die S3-Leitlinie hingegen geht von Geschlechtsdysphorie als Variante der geschlechtlichen Entwicklung aus, bezieht nichtbinäre Varianten mit ein und guckt auf einzelnen Leidensdruck und die Abhilfe durch die in der Leitlinie gelisteten Massnahmen. Das alles nach Einschätzung der jeweiligen Fachärztys zusammen mit der betroffenen Person. Weg von einer binären Körpernorm, hin zum Individuum und seinen konkreten Bedarfen. Weg von einer einmaligen Diagnose („ist trans“), hin zu einer selbstbestimmten geschlechtlichen Identität und körperlichem Ausdruck.

Diese Umwälzung in der medzinischen Praxis ist offenbar noch nie so thematisiert worden im Zusammenhang mit der Bewilligung, aber vielleicht gilt da wo keine Klage, da kein Urteil. Vielleicht hat das BSG damit sogar die Begutachtungsanleitung(pdf) der Kassen (MDS) gekillt, die sich nämlich auf die S3-LL bezieht, wenn auch unzureichend und verfälschend.

Ich zitere mal die für uns alle relevanten Stellen aus der Urteils-Begründung(pdf) und kommentiere, wie ich die Abschnitte deute (IANAL). Die ganzen Paragraphen im Text sind zwecks Lesbarkeit weggelassen.

(17) Das BSG hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zu geschlechtsangleichenden Operationen bei Transsexualismus eine behandlungsbedürftige psychische Krankheit angenommen. Voraussetzung dafür war, dass psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis zwischen dem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit einem anderen Geschlecht nicht zu lindern und zu beseitigen vermögen.
Der Senat hat sich dabei ua darauf gestützt, dass die Rechtsordnung den sog Transsexualismus nicht nur personenstandsrechtlich, sondern auch als behandlungsbedürftige Krankheit anerkennt. Der Gesetzgeber hatte bereits durch Schaffung des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz ) bestätigt, dass der Befund des Transsexualismus eine außergewöhnliche rechtliche Bewertung rechtfertigt.

Weiter hat sich der Senat auf die ausdrückliche Nennung des „Transsexualismus“ in (§… SGB V) zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung gestützt.

Heisst: Der Gesetzgeber hatte das Schema „Transsexualismus“ = Krankheit definiert und zwar binär. Das war die quasi zwangsläufige Grundlage für den GBA, die Bezahlung der Maßnahmen zu erlauben. (Aber nur nach dem bisherigen binären Schema)

(18) Der Senat hält hieran nicht mehr fest.

Heisst: Diese Grundlage ist nicht mehr gültig. Die komplette bisherige (binäre oder andere) Grundlage. Damit entfällt die bisherige Erlaubnis. Die Erklärung folgt:

Der Rechtsprechung des Senats zu Operationen an gesunden Organen ausschließlich zur Angleichung an das weibliche oder das männliche Geschlecht (vgl RdNr 16) steht einerseits die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Personenstandsrecht entgegen.
Danach ist auch die geschlechtliche Identität von Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art 2) sowie dem Diskriminierungsverbot (Art 3) geschützt.

Erstens: Jede GBA-Regelung muss wg Grundgesetz und Dritte Option etc auch nichtbinäre Personen berücksichtigen, sonst wäre sie ziemlich sicher verfassungswidrig.

Andererseits spricht viel dafür, dass die bislang angenommene Beschränkung auf zwei biologische Geschlechter im binären System nicht mehr dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht.
Dies legt jedenfalls die aktuelle S3-Leitlinie … nahe (im Folgenden S3-Leitlinie).
Die S3-Leitlinie richtet sich ausdrücklich gleichermaßen an die medizinische Versorgung von Personen mit einer weiblichen, männlichen oder non-binären Geschlechtsidentität und verweist auf die im Mai 2013 veröffentlichte 5. Fassung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5), die neben dem traditionellen Begriff des „Gegengeschlechts“ weitere Geschlechtsformen („alternative gender“) in die Diagnostik einer Geschlechtsdysphorie einschließt (S3-Leitlinie S 6, 10).
Die S3-Leitlinie geht davon aus, dass eine Transidentität bzw Geschlechtsinkongruenz, bei der das eigene Geschlechtsempfinden nachhaltig in Widerspruch zu dem nach den Geschlechtsmerkmalen zugeordneten Geschlecht steht, an sich keine „Krankheit“ in Form eines behandlungsbedürftigen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes darstellt. Sie sieht für die Bestimmung des Umfangs der erforderlichen Behandlung aber den durch die Geschlechtsinkongruenz begründeten, klinisch-relevanten Leidensdruck als maßgeblich an.

Zweitens: Die S3-LL, der Goldstandard des aktuellen Konsens der med. Fachgesellschaften, wie trans Personen behandelt werden sollten, funktioniert vollkommen anders als das vorherige Modell (Krankheit, binär angleichen, fertig).

(20) 2. Bei der Diagnose und Behandlung eines durch Geschlechtsinkongruenz verursachten Leidensdrucks handelt es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, die dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nach § 135 SGB V unterfällt.

Dieses neue Modell von Geschlechtsdysphorie (vs (altem) ‚Transsexualismus‘) muss, weil anders, vom GBA genehmigt werden, damit die Kassen es bezahlen dürfen.

Das wird dann in Nummern 21-27 erklärt, läuft auf meinen obigen Tenor hinaus.

Hier die Beschereibung des methodisch neuen Kerns:

(28) Der Senat geht dabei davon aus, dass die ärztliche Praxis sich an dem in der aktuellen S3-Leitlinie zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisstand orientiert, der einem theoretischwissenschaftlichen Konzept folgt, das die systematische Anwendung bestimmter auf den Patienten einwirkender Prozessschritte (Wirkprinzip) zur Erreichung eines diagnostischen oder therapeutischen Ziels in einer spezifischen Indikation (Anwendungsgebiet) wissenschaftlich nachvollziehbar erklärt.
Aufgrund der aufgezeigten geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen und der neueren medizinischen Bewertungen, wie sie insbesondere in der S3-Leitlinie beschrieben sind, kann die Behandlung nicht mehr ausschließlich an normativ vorgegebenen Phänotypen (männlich/weiblich) ausgerichtet werden.
Die bisherige BSG-Rechtsprechung zu sog Transsexuellen basierte aber auf den klar abgrenzbaren Phänotypen des weiblichen und männlichen Geschlechts – anknüpfend an die darauf basierenden gesetzlichen Regelungen im TSG und in §116b SGB V zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung.
Die jeweilige Behandlung (Frau-zu-Mann-Transformation und Mann-zu-Frau-Transformation) war damit der Bewertung anhand eines objektiven Maßstabs zugänglich.

Zu beachten: Die Entscheidungen von Fachärztys / Gutachtenden sollen „objektiv“ nachprüfbar sein. Schwierig. Wie lässt sich Dysphorie messen?

(29) Die Diagnostik und Behandlung von durch Geschlechtsinkongruenzen jedweder Art verursachtem Leidensdruck stellen deshalb zwangsläufig auch eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar.

Peng. Deren Ansicht. Und weiter:

Die aktuelle wissenschaftliche Bewertung, wie sie insbesondere in der S3-Leitlinie referiert wird, bezieht die Vielfalt aller – auch non-binärer – Geschlechtsidentitäten ein, ohne dass auf einen normativ vorgegebenen Phänotyp, der mit der Behandlung angestrebt werden soll, zurückgegriffen werden könnte. Stattdessen müssen sowohl die Geschlechtsinkongruenz individuell festgestellt, als auch das darauf aufbauende Behandlungskonzept und das jeweilige Behandlungsziel unter Berücksichtigung des bestehenden Leidensdrucks (siehe oben Rd-Nr 18) individuell festgelegt werden.

[Beschreibung des partizipativen Ansatz und Konzentration auf einzelnen Leidensdruck]

Dies beschreibt ein Konzept, das Patient und Arzt nicht nur gleichberechtigt in die Diagnosestellung und Behandlung einbindet, sondern darüber hinaus der behandlungsbedürftigen Person eine Schlüsselrolle dahingehend zuweist, dass diese in Ermangelung objektiver Kriterien zwingend zunächst selbst die Feststellung der Inkongruenz vorzunehmen hat. Schon deswegen weicht das Konzept methodisch von anderen Behandlungsverfahren ab. Die Kriterien für die medizinische Notwendigkeit einer geschlechtsangleichenden Operation sind danach nicht nach objektiven – einem Sachverständigengutachten zugänglichen – Maßstab vorgegeben. Vielmehr wird Behandler und Patient ein gemeinsamer Entscheidungsspielraum zugestanden.

Heisst: Die S3-LL ist schuld, dass es keine Orientierung an binären Norm-Ziel-Körperlichkeiten mehr gibt, bzw dies nicht mehr als med. adäquat angesehen wird.

(32) … Der therapeutische Prozess zur Entwicklung des gewünschten Behandlungsziels ist den Einzelmaßnahmen (zB Hormonbehandlung, Epilation, Logopädie, Phonochirurgie, Adamsapfelkorrektur, Perücken und andere Hilfsmittel, Genitaloperationen oder eben Brustoperationen) konzeptionell vorgeschaltet. Zentraler Ausgangspunkt ist das Behandlungskonzept als Ganzes, aus dem sich die Indikation für einzelne Maßnahmen ableitet. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die chirurgische Umsetzung der im Hinblick auf das Behandlungsziel geplanten Eingriffe für sich betrachtet (hier: die isoliert betrachtete Mastektomie) bereits dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht.

(33) c) Eine danach erforderliche Richtlinie des GBA nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V liegt (bislang) nicht vor, so dass die Beklagte die hier streitige Leistung für die klagende Person nicht erbringen durfte.

Heisst: Die einzelne Maßnahme (hier Mastektomie, dort vielleicht eine GaOP) ist unerheblich, auch ob bereits binäre Transitionen so durchgeführt wurden. Der med. Standard bzw. auch die Praxis der Ärztys hat sich geändert (die müssen sich nämlich dran halten) und für diese reale praktizierte Medizin (Therapiekonzept) gibt es aktuell keine Richtlinie aka Erlaubnis des GBA.

Das ist leider alles durchaus schlüssig, solange eins davon ausgeht, dass die Fachärztys bei der Diagnose und Indikation tatsächlich anders agieren als vor der S3-LL.

Nebenaspekt: Es wird angesprochen, dass die Fachärztys ggf zu viel Entscheidungsmacht haben, bzw sogar die Patientys, wegen der Partizipation und die Kassen, bzw MDK keine „objektive“ Kontrollmöglichkeiten haben. Wenn Ziel nicht mehr ein binärer Minimal-Normkörper ist, sondern immer (auch binär) methodisch die nicht wirklich ertestbare Dysphorie, kann keinein sagen, ob eine Person „wirklich trans“ ist. Spoiler: Das konnte noch nie objektiv festgestellt werden…

Dass aktuell wirklich keine Erlaubnis des GBA für die gesamte Praxis nach S3-LL besteht, binär und nichtbinär, steht explizit im Urteil:

(39) 4. Der Senat verkennt nicht, dass nach den Grundsätzen dieser Entscheidung auch die auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Senats mögliche Behandlung von Transsexuellen zur Annäherung an das andere Geschlecht dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V unterfällt.

Obwohl höchstrichterliche Urteile kein Gesetzesrecht sind und keine vergleichbare Rechtsbindung erzeugen, kann es der aus Art 20 Abs 3 GG hergeleitete Grundsatz des Vertrauensschutzes allerdings gebieten, einem durch gefestigte Rechtsprechung begründeten Vertrauenstatbestand erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit einer geänderten Rechtsprechung oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung zu tragen.

Insoweit liegt es nahe, dass die KKn für bereits begonnene Behandlungen von Transsexuellen aus Gründen des Vertrauensschutzes die Kosten wie bisher weiterhin zu übernehmen haben.

D.h. nur bereits bewilligte Behandlungen dürften ausnahmsweise zu Ende geführt werden, obwohl sie eigentlich seit 2019 „illegale“ Methoden bezahlen.

Ende der Urteils-Analyse. wie gesagt: Ich bin kein Juristy. Lest selbst nach.

Das wird jetzt verdammt spannend…