Es geht um den Vortrag einer Biologie-Doktorantin (V.) der Humboldt-Uni zur „Langen Nacht der Wissenschaften“. Diese Person hat sich in der Vergangenheit u.a. auf Twitter durch trans-feindliche und TERFige Statements hervorgetan. Da ihr Vortrag mit dem Titel
Stichtag ist der 30. Juni 2022, an dem der arbeitskreis kritischer jurist*innen an der Humboldt-Uni den Protestaufruf veröffentlichte und die HU daraufhin aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ den Vortrag absagte. Der akj veröffentlichte am 4. Juli 2022 ein ergänzendes Statement.
Wichtig bei den Artikeln ist auch das Datum der Veröffentlichung, weil Protest gegen V.’s Transfeindlichkeit und ihre Hetze, Stalking, Doxxing gegen einzelne pro trans Personen schon lange existierte. Es ist daher seltsam, dass V.s Vortrag offenbar ungeprüft ins Programm kommen konnte.
Stellt sich raus: Der Vortrag war ziemlich sicher als Provokation gedacht, der Protest einkalkuliert. Es ging nie um Wissenschaft. Das ist immer nur der Aufhänger, um rechte, „naturalistische“ Weltbilder zu pseudo-legitimieren. Pseudo, weil die Wissenschaften allesamt viel weiter sind. Interessant auch, dass diese Weltbilder allesamt anti-feministisch sind, was TERFs anscheinend nicht zu stören scheint.
Einordnung der Person, ihres Vortrags und ihrer anti-trans aktivistischen Tätigkeit vor dem 1. Juli
Belltower.news, Sofie Heiberger, 22-05-30: „Natürlich antifeministisch: Argumente gegen die Aussagen von Biologist:innen“
Belltower.news, Kira Ayyadi, 22-06-02: „Rechtsalternativer Hass: Neuer gemeinsamer Nenner? Hass auf trans Frauen„
Reaktionen nach dem Aufruhr
Berliner Zeitung, Kommentar von Susanne Lenz, 22-07-03: „Vortrag über Geschlecht und Gender abgesagt: Cancel Culture an der Humboldt-Uni“ – Lenz relativiert V. und will explizit nicht inhaltlich auf die Debatte um V eingehen, meint aber zum Thema trans, das bei V ja angeblich gar nicht vorkommen sollte, im letzten Absatz, dass ja noch nicht alles gesagt sei; völlig verkennend, dass es um Hass, Hetze und Menschenfeindlichkeit geht. Siehe unten auch das Interview von Lenz mit Krahe.
Berliner Zeitung, Sonja Dolinsek, 22-07-04: „Anti-Gender-Vortrag an der HU Berlin: Von Cancel Culture kann keine Rede sein„
Frankfurter Rundschau, Katja Thorwarth, 22-07-05: „Vortrag von Biologin abgesagt: „Personen wie Vollbrecht geht es nie um biologische Zweigeschlechtlichkeit“„
Berliner Zeitung, 22-07-05: „Sexualwissenschaftler zur HU: „Gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt““ – Nein, in der menschlichen Biologie gibt es nicht nur zwei Geschlechter und Biologie greift zu kurz.
Berliner Zeitung, Franca Parianen, 22-07-05: „Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt„
infranken.de, Io Görz, 22-07-06: „Humboldt-Universität: Transfeindlicher Vortrag wird nachgeholt – wie war das mit Cancel Culture?„
Belltower.news, Sascha Krahnke, 22-07-06: „Transfeindlichkeit: Wie ein abgesagter Vortrag transfeindliche Feminist*innen und Rechtsaußen zusammenbringt“
Spiegel, Sascha Lobo, 22-07-06: „Geschlechterdebatte Wie gut finden Sie Zwangssterilisation?“ – Trans existiert, get used to it.
Die Zeit, Dr. Maria Mast & Lena Völkening, 22-07-07: „Debatte um Zweigeschlechtlichkeit: Mädchen oder Junge?“ – Nicht sehr ergiebig, gemässigte Aufklärung aber kein Lösungsansatz.
Tagesspiegel, Tilmann Warnecke, 22-07-08: „Ministerin kommt zur Vollbrecht-Nachholveranstaltung an HU Berlin; Genderfragen, Penis-Tweets und elektrische Fische„
Berliner Zeitung, Susanne Lenz interviewt Rüdiger Krahe, Doktorvater von Vollbrecht, 22-07-06: „HU-Biologe: „Der Streit um Zweigeschlechtlichkeit ist so unnötig wie ein Kropf“ – entweder Scheuklappigkeit oder absichtliche Pseudo-Naivität bei Krahe. Bei Lenz vermute ich Absicht wg des Artikels vom 3.7.
Warum?
Erstens besteht Die Biologie nicht nur aus der Zeugung, sondern erforscht auch die Entwicklung aller (drei) beteiligten Individuum und ihre mögliche Variantenbreite. Und da gibt es eben ein breites Spektrum mehrdimensionaler Vielfalt. Inklusive Individuen, die weder Spermien noch Eizellen produzieren, wo die Einteilung schon wieder schwammig wird und ein Rückzugsgefecht auf potenzielle Zeugung beginnt, um sie irgendwie zweizuteilen.
Zweitens wollen V. und ihre Genossys eben nicht bei der reinen Zeugung bleiben, sondern das Modell reiner, eindeutiger Zweigeschlechtlichkeit von der Zellebene bis auf die gesellschaftliche Ebene – Gender – heben und generalisieren. Nennt sich Biologismus. Natürlich benutzen sie absichtlich den mehrdeutigen Begriff Geschlecht. Selbst wenn V. es in dem Welt-Artikel abwiegelt.
Ehrlicherweise und auf der Höhe der Erkenntnisse hätte Krahe wohl eher sagen müssen: „Auf der reinen Zellebene beobachten wir bei Menschen zweigeschlechtliche Zeugung. Daraus lässt sich allerdings nicht auf weiteres schliessen, weder auf die Eltern-Individuen, noch auf das Kind und schon gar nicht auf die gesellschaftliche Interpretation von Körper als Geschlecht“ – und dann in der Fachsprache tunlichst Begriffe vermeiden, die in der Alltagssprache mehrdeutig sind.
Dies alles unterschlägt Krahe. Kann Fachblindheit sein, kann Einverständnis mit V.’s TERF-Agenda sein. Müsste eins recherchieren.
Ältere und andere Texte zum Thema „Wissenschaftsfreiheit? Meinungsfreiheit?“
Schon 21-12-06: Forschung und Lehre, Christian von Coelln: „Wissenschaftsfreiheit: Beschneidet die „Cancel Culture“ die Freiheit der Wissenschaft?„
Spiegel, Tanya Falenczyk, 22-07-02: „»Cancel Culture« Ja, wir Jungen wollen nichts Falsches mehr sagen – und das ist auch gut so“ – Reaktion auf einen Vorwurf von Thomas Gottschalk
Seriöse Wissenschaft zum Thema
(2008) „Report of Fertility in a Woman with a Predominantly 46,XY Karyotype in a Family with Multiple Disorders of Sexual Development“ – Genetisch männliche Mütter und weitere Vielfalt in einer Familie
(2014) „Sex Determination: Why So Many Ways of Doing It?“ (Bachtrog D, Mank JE, Peichel CL, Kirkpatrick M, Otto SP, et al. (2014) Sex Determination: Why So Many Ways of Doing It? PLoS Biol 12(7): e1001899. doi:10.1371/journal.pbio.1001899)
(2010) Heinz-Jürgen Voss: „Making Sex Revisited, Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ – ein ganzes Buch zum Thema. Historisch und aktuell. Von Voss gibt es auch eine Literaturliste zum Stand der Forschung (Stand 2018).
(2015) Nature, Claire Ainsworth: „Sex redefined, The idea of two sexes is simplistic“ – wunderbare Beispiele an körperlicher Vielfalt. Deutsche Übersetzung: Link, PDF.
(2021) Forrest Valkai (engl) 30minütiger Science Talk auf Youtube, wie komplex „Sex“ (=“biologisches Geschlecht“) bereits auf der genetischen Ebene ist, warum ein einzelner binärer Marker dafür unzureichend ist und ein kleiner Ausflug zu möglichen biologischen Faktoren für Gender.
22-07-08 Heinz-Jürgen Voss: „Die vielen Geschlechter der Biologie – Vortrag und Diskussion zur Debatte an der Humboldt-Universität zu Berlin„. Aufzeichnung auf Youtube, einführende Literaturliste.
Die Ursache
Der Vortrag bei Youtube, gehalten am gleichen Tag im Kanal einer österreichischen TERF – banale 9te Klasse Biologie, die etliches auslässt, sich inhaltlich widerspricht und letztlich den Begriff „Geschlecht“ als Eigentum ihrer Simpel-Biologie claimen will.
Die Zeit, Marie Vollbrecht, 22-07-06: „Humboldt-Universität: Der Vortrag, den ich nicht halten konnte“ – Eine weichgespülte Rechtfertigung, die natürlich ihre anti-trans Agitation auf Twitter und anderswo auslässt. Siehe die Artikel bei Belltower et.al, um das einzuordnen.