Was, wenn der Begriff „Gender“ das Problem ist?

Da fragte eine Feministin, die „primär für Rechte von biologischen Frauen eintritt, wohlgemerkt aller biologischen Frauen“ in einer Diskussion zu einem Artikel. Sie meint, „diese zweifellos größte gesellschaftlich diskriminierte Gruppe wird sprachlich nur sichtbar, wenn sie mit weiblichen Substantiven benannt wird oder in neutralen Substantiven inkludiert ist. Biologische Frauen werden nur gesehen/gehört, wenn sie geschrieben/gesprochen werden.“ (Ja, der TERF-Geruch kommt nicht von ungefähr. Sie fand auch Kathleen Stocks Buch „erhellend“).

Ihrer Ansicht nach würden durch „das Gendern“, vor allem durch Sternchen und Inklusion aller Gender, „biologische Frauen“ wieder unter den Tisch fallen. Und damit ausgerechnet die größte diskriminierte Gruppe, die offenbar deshalb – sorry, Sarkasmus – gegenüber kleineren diskriminierten Gruppen einen Vorrang bei der Nichtdiskriminierung haben sollten.

Anders gesagt: Statt „Gender“ sollte „die Biologie“ das anerkannte Haupt-Diskriminierungsmerkmal sein.

Well, das ignoriert grundlegende Erfahrungen, die diese Person wohl nie gemacht hat:

Von den mindestens vier Dimensionen von „Geschlecht“ sind im Alltag pimär zwei bedeutsam. Vergeschlechtlichte Körperlichkeit und wahrgenommene bzw gedeutete soziale Rolle. Beides hat nur begrenzt etwas miteinander zu tun, wird aber regelmässig falsch verkoppelt.

Die Vernachlässigung nicht-männlicher Körper in der Medizin und in der Gestaltung von Umgebung ist einfach zornerregend. „Das Maß für Mensch ist Mann“. Das ist benachteiligend, gesundheitsschädlich und teilweise tödlich für alle, die nicht in dieses Maß passen.

Dieses Maß ist größtenteils unsichtbare Selbstverständlichkeit und so wenig nicht gedacht, dass selbst kommunale Schneeräum-Pläne -hoffentlich ungewollt- sexistisch diskriminierend sein können, siehe Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen.

Auf der anderen Seite kommt es im Alltag zu fast 100% nicht auf medizinische Aspekte an, sondern wie Menschen durch andere gedeutet werden und welche Konsequenzen dies dann hat. Die körperlich-geschlechtliche Benachteilung entsteht erst durch die sozialen Rollen, die nicht-männliche Menschen marginalisiert. Autos, Werkzeuge usw müssten nicht einseitig für männliche Durchschnittsmaße gebaut werden und Notfallmedizin könnte auf die unterschiedlichen Symptomatiken von Herzinfarkten geschult werden. Wenn dies gewollt würde; vor allem von cis Männern.

Ich bin nichtbinär, bewohne einen teilweise medizinisch transitionierten „Mischkörper“ und werde je nach Aufmachung männlich oder weiblich gedeutet.

Damit wechseln auch jeweils Privilegien und Benachteiligungen. Eine Erfahrung, die ich wirklich allen Menschen mal empfehlen würde. Die Unterschiede im Umgang sind eklatant.

Das heisst auch, dass ich allein dadurch, wie andere mich sehen, ein (binäres) Geschlecht zugewiesen bekomme und mich dazu verhalten muss. Tue ich das konform, kann ich „mitschwimmen“. Begehre ich dagegen auf, erzeuge ich Irritation und ggf Konflikt.

Genau das ist Gender im Alltag. Ohne die Reflektion durch andere habe ich keines. Bei mir tatsächlich. Ich bin agender. Ich habe effektiv kein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gendergruppe.

Wir alle werden von anderen vergeschlechtlicht und haben zusätzlich unser internes Empfinden, welche Normen, Rollen, Verhaltensweisen, Sprache, etc uns entsprechen. Das muss nicht kongruent sein, vor allem nicht zu den binären Stereotypen, und kann von materiellen körperlichen Features ziemlich entkoppelt sein.

Bei den meisten Menschen ist die Kopplung Körper/Genderrolle aber so tief verankert und nie in Frage gestellt worden, dass Inkongruenz gar nicht vorstellbar ist. Die „Baby X„-Experimente zeigen, wie bereits Kleinkindern Gendernormen aufgedrückt werden, weil ihr Geschlecht (falsch) angenommen wird.

Die Ursache geschlechtlicher Benachteiligung ist also wirklich eher „Gender“. Eigentlich an Genderzuweisung durch andere. Unterschiedlicher Umgang und Denke anderer Menschen, die an optischer Deutung festgemacht werden.

Gerade die Erfahrungen von trans Personen mit Passing, die also im Alltag nicht „erkannt“ werden (und das sind sehr viele) zeigen, dass sämtliche geschlechtliche Privilegien und Diskriminierungen an dieser Deutung durch andere hängen. (Das macht das Leben von trans Männern immer noch schwerer als das von cis Männern, aus diversen Gründen)

„Die Biologie“ als Kriterium ist daher bestenfalls zweitrangig.

Es heisst auch, dass wir prinzipiell Diskriminierungen, Erwartungen und Zwänge von Optik, körperlichen Features und Vergeschlechtlichung entkoppeln können. Wenn wir wollen. Es heisst nicht, eine binäre Spaltung zu verhärteten Fronten zu verschärfen, sondern die Zuweisung zu beenden. Das ist, wenn ich de Beauvoir, Butler & Co richtig verstanden habe, der grundlegende feministische Gedanke.

„Gendern“ op platt

Plattdüütsch („Plattdeutsch“) war in weiten Teilen Norddeutschlands die Standardsprache und sogar eine der Hauptsprachen der Hanse. Über die Wanderungsbewegungen ist es mit Englisch und Niederländisch verwandt. Beim Thema „gendern“ ist es viel einfacher als Hochdeutsch.

Plattdüütsch kennt statt „der, die, das“ nur zwei bestimmte Artikel: „de“ (f,m) und „dat“ (n). Wie im Englischen heisst es „de Mann, de Vro (Frau), de Jong (Junge), de Deern (Mädchen)“ (aber „dat Kind“).

Statt „ein, einer, eines, man“ gibt es nur den unbestimmten Artikel „een“, verwandt mit engl. „one“ und sehr ähnlich benutzt: „Dat kann een so moken“, „Das kann man so machen“.

Een ist sehr praktisch. „Niemand“ wird zum Beispiel wie engl. „noone“ zu „keen een“ („keinein“). „Jemand“ ist auch „een“. „Kann mi dat mol een verklaren?“ – „Kann mir das mal jemand erklären?“.

Der Twitter-Account „De Plattfoorm“ (@plattfoorm) hat es in einer Infografik zusammengefasst:

Übersetzung

Gendern auf Platt – So geht das!
1. Teil: Mit Pronomen arbeiten
Neben den zwei geschlechtlichen Pronomen „se“ („sie“) und „he“ („er“) kennt Platt auch „de“ und „een“, die immer gehen (funktionieren).
Beispiel: „Ich kenne einen/eine, der/die betrügt“ -> „Ik kenn een, de betrüggt“.
(Also viel einfacher!) Also gern de|een sagen, und man eins braucht kein Gender zu markieren.

Problem: „de“ wird „den“ nur für Maskulina im Objektfall (Akkusativ):
„De Mann schrifft den Breev“ („Der Mann schreibt den Brief“)
„De Mann süüt de Vro“ („Der Mann sieht die Frau“)
Lösung: Doppelform oder Genderzeichen – de*n | de:n | den oder de (1)
„Wanneer kann ik de*n | de:n | den oder de denn anropen?“ (Wann kann ich den_die | den oder die denn anrufen?“)

Nebensätze statt Personalformen auf -er | -sche:
„een, de“ („eine*r, der*die“)
„de, de“ („der*die, der*die“)
„Lüüd, de“ („Menschen|Personen|Leute, die“)

„Koch oder Köchin“ – „Ein*r, der*die kocht | in der Küche arbeitet“
„Politiker*innen“ – „der*die, der*die regiert | in der Politik ist|sind“
„Reisende“ – „Leute|Menschen|Personen, die auf der Reise sind“

Das ist typisch Plattdeutsch und braucht trotzdem keine Änderung zum Gendern.

(1) Stern, Unter-, langen, schrägen Strich, Doppel, Mittel oder normalen Punkt – Hauptsache gendern!

Links:
Wörterbücher: [ndr.de], [platt-wd.de], [neustädter-schuetzengilde.de], [ats-group.de]
[wikipedia op platt]
[plattdüütsche Grammatik en WIki verklart op platt]
[Plattdeutsche Grammatik]

Ex-Gender

Meine persönliche Einordnung und Beziehung zu dem Haufen an Bezeichnungen rund um Gender. Wird ggf. erweitert, wenn ich es für nötig halte.

tl;dr triff keine Annahmen über mich, die irgendwie mit Gender, Geschlecht, Körperlichkeit o.ä. zu tun haben. Nimm mein Aussehen und Verhalten ausschliesslich im hier und jetzt für sich selbst stehend, ohne dass du daraus irgendetwas anderes schliessen kannst. Genauso werde ich es mit dir halten.


Gender: Hab ich nicht. Ein alldurchdringendes System von Zuschreibungen (Eigenschaften) und Anforderungen/Erwartungen/Konventionen (Verhalten), das in jeder Gesellschaft irgendwie vorhanden ist, aber in Zeit und Region stark variieren kann.
Klassisch basierend auf wissenschaftlich nicht haltbaren Vermutungen, aufgrund körperlicher Merkmalen rund um biologische Re_produktion (die per Konvention stets durch Kleidung verhüllt werden), eingeschränkt auf nur zwei idealtypische Stereotypen, die bei genauerem Hinsehen von kaum einem echten Menschen wirklich erfüllt werden.
D.h. wann immer eine Person in Bezug zu Gender gesetzt wird, aktiviert dies eine große Anzahl an Annahmen über und Erwartungen an diese Person, die alle Lebensbereiche umfasst. Welche genau ist per „Tradition“ recht willkürlich festgelegt. Durch die Alldurchdringung haben viele Menschen aber den Eindruck einer Naturgegebenheit, die wie gesagt wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann.
Auch wenn die meisten Menschen sich cis-gender empfinden – sie fühlen sich mit der bei Geburt zugewiesen (sozialen) Gruppe zugehörig – ist Gender eigentlich unabhängig von Geburtskörper, Chromosomen, etc.: Gender ist nichts biologisches.

Non-binary, nicht-binär, abinär, Enby: Trifft zu. Heisst aber nur „(irgendwo) ausserhalb der beiden ehemals einzigen Kategorien (m, w)“. Auch „nicht jederzeit bzw. 100%ig einer der beiden zugeordnet, zuordbar“. Mit anderen Worten: In welcher Form auch immer gehöre ich auf jeden Fall weder in den Kasten „männlich“, noch in den Kasten „weiblich“.

Trans: Bin ich. Und zwar weil ich dem mir nach der Geburt per körperlicher Beschau zugewiesenen Gender nicht entspreche, nicht zugehörig fühle, nicht in die Gruppe einordnen lasse.

Demigender: Von „demi“ (gr: halb). Übersetzt: „Hat so ein bisschen gender, aber passt nicht wirklich“. Passt nicht auf mich, weil es mich wieder in Beziehung zum binären System setzen würde und mir damit den ganzen Klumpatsch wieder mit anhängt: „Ist so halb-(männlich/weiblich) ⇒ hat dann wohl auch folgende Eigenschaften“.

(Gender-/Geschlechts-)Identität: Nope. Gender ist eine soziale Kategorie, und dazu eine, mit der ich nix anfangen kann. Maximal ein marginaler Aspekt meiner Persönlichkeit – sobald ich weiss, wie sich Gender anfühlt. Meine Identität finde ich in meinen Überzeugungen (Glaubenssätzen, Prinzipien). Meine relative Verortung zu den binären Genderkategorien gehört nicht dazu, ausser, dass ich damit weder etwas anfangen kann, noch irgendwie damit zugeordnet werden möchte.

(Geschlechts-/Gender-)Empfinden: Hab ich auch nicht. Keine Ahnung, wie sich „ein Mann als Mann fühlt“ oder „eine Frau als Frau“. Was mir an Stereotypen angeboten wird, ist in beiden Fällen weder attraktiv, noch hinreichend. Überall gibt es positive Eigenschaften, die aber sofort mit negativen verknüpft sind. Ich lehne deshalb die Einordnung in oder relativ zu den binären Kategorien ab.

Agender, None-Gender, No-Gender: „Ich habe gar kein Gender“. Käme noch am ehesten hin.
Bewegt sich aber noch als Variante innerhalb einer gender-awaren Welt, also auch in Beziehung dazu und mit Bewusstsein über die (binären) Kategorien. D.h. auch ständigen struggle mit der Selbst- und Fremdeinordnung durch gegenderte Signale (Körper, Klamotten, Verhalten).
Analog zum Atheismus, der sich in einer Welt religiöser Menschen ständig erklären und rechtfertigen muss, weil jedes Verhalten religiös interpretiert wird.
Genau so wird von gendernden Menschen jedes Verhalten, jeder Körper und jede Aufmachung durch die Gender-Filter-Brille betrachtet, gelesen und eingeordnet – und resultiert in fremd-genderndem Verhalten.
Die übliche Frage, „aber bist du nun männlich-agender oder weiblich-agender“ ist deshalb so nachvollziehbar, wie unsinnig, ähnlich wie „aber bist du jetzt odin-nichtreligiös oder zeus-nichtreligiös“.

Ex-Gender: Das trifft’s. Ich bin raus. Ich schliesse mich Rae Spoon’s „Gender Retirement“ an und lasse die gegenderte und gendernde Welt hinter mir, wo immer möglich.

To me, gender retirement is the refusal to identify myself within the gender binary. […]
A radio interviewer once asked me, “Do you feel more like a man some days and more like a woman on others?”
“No, I’m not really either,” I said.
“Not one more than the other?”
Questions like this are used to insinuate that there is no way to live outside of the binary, only in-between its opposite poles. The whole point of changing my pronoun to the gender-neutral “they” was to state that I feel like neither. Yet almost every day, I am expected to declare myself as either a man or woman or, at the very least, somewhere in the spectrum in between. To me, gender retirement is very much about refusing to be put on that spectrum.
So far, I would highly recommend retiring from gender to anyone who is feeling like the spectrum or the binary doesn’t fit. […] I don’t think that gender retirement need only be available to people who identify as trans. Ideally, some sort of opt-out plan would be implemented for people who want to accept only part of their roles in the binary, but not buy into everything expected of them. There is no retirement home for gender, but I like to think that the less I expect others to conform to the expectations of the binary and the more I refuse to participate in it, the closer my dream of true gender retirement is to reality.

Rae Spoon, Iva Coyote: „Gender Failure“, ISBN 978-1-55152-537-2 (epub)

Ausführlicher, praktischer und politischer schreiben Lann Hornscheidt und Lio Oppenländer in „exit gender“:

Exgendern meint jegliches Handeln, welches Gender loslässt, Genderbilder nicht wieder aufruft und Gender-Zuschreibungen sein lässt [um genderistische Gewalt zu vermeiden].
Exgendern ist etwas anderes als entgendern: Entgendern findet statt, wenn Menschen eine (mögliche) Genderidentität abgesprochen wird.
[…]
Unser zweiter strategischer Schwerpunkt ist, genderistische [=auf Genderzuschreibungen basierende, diskriminierende] Gewaltstrukturen wahrzunehmen und sie als solche zu benennen.

Lann Hornscheidt, Lio Oppenländer: „exit gender“, ISBN 978-3-945644-17-1

Bottom line: Ich habe mich abgemeldet aus dem Spiel, dem Kult, der Ideologie der sozialen Klassifikation namens Gender, bei der Menschen, Dinge und Handlungen ohne Sinn und Nutzen, aber häufig in vielfacher Hinsicht benachteiligend eingeteilt bzw. ausgegrenzt werden.

Genderndes Verhalten bzw. Zuschreibungen mir gegenüber empfinde ich als gewaltvoll und respektlos. Es verärgert mich und ich werde es benennen.

Ich kann mich durch mein gesellschaftliches Training anderen Menschen gegenüber gendernd verhalten, werde dies aber höchstens tun, wenn von ihnen explizit gewünscht, zum Beispiel bei Anreden.