Zu wenig Ahnung, zu viel Meinung (Hormone, Psyche, Nichtbinarität, Fluidität, plurale Menschen)

Es gab einen Forenbeitrag, weil gefragt wurde, was denn Genderfluidität eigentlich sei. Gefragt hatte eine binäre, trans Frau (btF). Jene btF hat erhebliche Schwierigkeiten, andere als binäre Identitäten nachzuvollziehen.

Insbesondere als ich einen aktuellen Artikel des Queer-Lexikon für Beispiele anführte, war es mit dem Verständnis ganz vorbei. Die Antwort bestand aus u.a. folgenden Statements (paraphrasiert wg Anonymität):

  • Da brauchen aber welche dringend Therapie
  • Was die beschreiben ist entweder normal oder klingt nach psychischen Auffälligkeiten
  • Wer sich andauernd umentscheidet hat zu viele Ideen oder ADHS
  • Hormone wegen Dysphorie zu wollen ist unverantwortlich
  • „unter Umständen irreversible Veränderungen“
  • Solche Statements sollten entsprechend kommentiert werden, sonst macht das noch jemand nach
  • Es sollte immer professionelle Hilfe geben
  • Sich andauernd mit sich selbst zu beschäftigen ist doch krank, traumatisiert
  • Leute müssen vor sich beschützt werden, sonst machen sie Fehler und begehen Suizid

Das ist natürlich wirklich arg. Deshalb habe ich ausführlich geantwortet:


So sehr ich deinen Wunsch nach Fürsorge und fachlicher Unterstützung für trans Personen und Menschen mit psychischen Problemen schätze, schiesst du hier nach meiner Erfahrung(1) erheblich über das Ziel und die Realität hinaus.

Es erinnert mich ein wenig an einen Freund, studierter Mediziner aber nach dem praktischen Jahr in der Klinik abgebrochen. Er hatte viel gesehen und gelernt und war in BDSM Kreisen berüchtigt für seine Sicherheits-Regeln, mit einer sehr festen Meinung, was geht und was nicht – und zwar generell und für alle. Ein anderer Mediziner-Freund mit jahrelanger Berufspraxis kommentierte damals: „Er hat gelernt, woran Menschen alles sterben können, aber noch nicht die Erfahrung, was Menschen alles überleben“.

Also tl;dr es ist in der Praxis eigentlich nicht so dramatisch, wie du es dir offenbar ausmalst. Dafür ist häufig anderes schlimm.

Thema Hormone

Erst mal: Bei Hormonen kannst du rein körperlich-medizinisch fast nichts kaputt machen. Die Risiken für echten Schaden sind gering, ebenso die Quoten und treten idR langsam beginnend und nach Monaten oder Jahren falscher Medikation auf, und quasi nie bei den körperidentischen Hormonen in gängiger Dosierung.

Hint: Jeweils eine Hälfte der cis Bevölkerung lebt mit dem jeweiligen Hormon ziemlich gut. Das sind schon mal ca. 96% der Menschheit. Ca. 80-90% der trans Bevölkerung(2), ca. 1-3% absolut, wollen genau die „unter Umständen irreversiblen Veränderungen“. Die anderen wollen keine HET.

Ich kenne keine trans Person, siehe (1), die sich keine Gedanken gemacht hätte, was eine HET körperlich bewirkt. Im Gegenteil sind die meisten Fragen genau danach wann, was, wie viel. Zu den anderen Folgen weiter unten.

Den meisten Körpern ist es ziemlich egal, ob sie auf Estradiol oder Testosteron laufen. Die Hauptaufgaben bei Knochenbau, Blut, etc machen beide. Das bedeutet, dass eine transgeschlechtliche Hormonersatztherapie (tgHET) keine einmal-für-immer Entscheidung ist. Sie kann begonnen, moduliert, unter- oder abgebrochen werden.

Leider ist das medizinische Fachwissen zu tgHET ziemlich dünn. Die Sample für Studien sind klein, es gibt kaum Finanzierung und die Settings sind kaum vergleichbar. Noch dünner ist das Fachwissen bei den Ärztys. Auch bei den Endos. Es gibt wenige, die längere Erfahrung haben und noch weniger, die sich fortbilden.

Die meisten arbeiten einfach nach Leitlinie und Empfehlungen. Das bedeutet: Mach ne Baseline, starte mit diesen Medis (Hormon als Gel, ggf Blocker) und Dosierungen, geh nach dieser Referenztabelle, bis x ng/ml erreicht sind. Und das erst alle drei Monate, dann sechs und bei einigen sogar nur einmal pro Jahr.

Das führt regelmässig zu schlechter Betreuung. ZB zu viel Blocker und gerade im Beginn (Titrationsphase) zu wenig Estradiol. Folge: Depressive Schübe, Antriebslosigkeit etc. Und es gibt nicht wenige mit der Meinung, gerade bei transfemininen Personen die Östrogenlevel senken zu wollen. „Weil das bei cis Frauen ja auch so ist, mit der Menopause“. Das ist genauso völliger Unfug wie die „Pillenpause“.

Ach ja, die Bluttests. Die sind vor allem zur Absicherung. Zwei trans erfahrene Endos haben es mir so erklärt: Wir gehen hier eine jahrelange Verpflichtung ein. Im Leben kann alles mögliche aus allen möglichen Ursachen passieren. Die Kassen und Versicherungen gucken dann nach „Abweichungen“ vom Normal und versuchen Verantwortliche zu finden, die Schuld und Kosten übernehmen. Wenn ich die Tests nach Leitlinie mache, kann ich sagen „ich bin nicht schuld, ich hab alles nach aktuellen Vorgaben gemacht“. Funktioniert bei vielen anderen chronischen Patientys übrigens genauso.

Ansonsten kannst du nur feststellen, ob und wie viel von den Hormonen tatsächlich im Blut ankommt. Das ist aber bei „alle paar Monate“ nur ein Schnappschuss.

Fazit: tgHET ist kein Hexenwerk. Die gesundheitlichen Risiken sehr begrenzt. Die Profis haben häufig nicht mehr Ahnung als ihre Klientys und können bei individuellen Bedarfen keine angepasste Behandlung anbieten. Tatsächlich ist das Community-Wissen häufig besser und war schon etliche Mal nötig, um „Profis“ zum Update ihrer Vorgehensweise zu nötigen. Unzählige trans Personen fangen selbstbestimmt eine HET an, weil persönliche Umstände nicht zum System passen. Ich kenne viele. Allen geht es gut.

Thema Psyche

Gleichzeitig sind die emotionalen, seelischen und sozialen Folgen einer tgHET nicht zu unterschätzen. Aber auch dazu braucht es nicht unbedingt eine Therapie. Zumal – wie oben – nur die wenigsten Therapeutys wirklich Ahnung haben, wie es sich wirklich als trans lebt. Selbst wenn sie viele trans Personen auf ihrer Listen haben/hatten, sind sehr viele in cis, binären und hetero-orientierten Mustern verhaftet(3).

Trans zu sein ist keine Störung. Es lässt sich auch therapeutisch nicht beseitigen. Trans als Scheinausweg aus anderen psychologischen Gründen ist sehr selten und erledigt sich in der Regel innerhalb der eigenen Testphase. Lange bevor HET richtig einsetzt oder gar OPs passieren. Mal abgesehen davon, dass vor OPs zwingend psych. Indikationen stehen.

Der eigentliche Bedarf besteht in der Begleitung durch die Transition und im Ankommen in einem neuen Normal. Die Schwierigkeiten ist nicht trans zu sein, sondern mit der cis Umwelt und ihren Verständnismängeln für uns klar zu kommen.

Die wirkliche Begleitung findet deshalb zumeist in trans und peer Beratungen, SHGs und Online-Gruppen statt. Weil da Leute sind, die die Situationen wirklich kennen und nachvollziehen können. Siehe hier im Forum zB die Threads zum Thema „ich bin bis jetzt in einer hetero-Beziehung. Was wird da jetzt draus. Mein Partny ist doch hetero“. Auch „wann und wie oute ich mich auf der Arbeit?“, „Ab wann benutze ich die andere Toilette/Dusche?“, „dieser eine Mensch misgendert und deadnamed mich ständig“, usw. sind typische, wiederkehrende Themen überall.

Das hat aber alles nur begrenzt mit tgHET zu tun. Ein Therapiezwang ist daher ziemlich überflüssig. Aufklärung und Beratung sind prima, und informed consent nachweislich ausreichend.

Fazit: Trans Personen wissen in der Regel was sie wollen. Sie kennen normalerweise auch die Konsequenzen und stellen sich die richtigen Fragen. Leider haben die meisten „Profis“ weder die Kompetenz noch die Erfahrung und das Einfühlungsvermögen, diese Fragen qualifiziert zu beantworten. Das meiste Wissen ist in den Communities und Verbänden.

Thema Eigenverantwortung

Dann: Uns allen wird im normalen Leben ziemlich viel Eigenverantwortung zugetraut und abverlangt. Wohnung, Nahrung, Gesundheit und genug Geld, um das alles zu bezahlen. Wenn du dich nicht selbst kümmerst, tut es kaum wer anders. Es sei denn, du beeinträchtigst deren Leben. Dann wollen sie dich eher aus dem Weg haben.

Aber keinein wird dich zwangsbeschützen, wenn du einen Job annehmen willst, heiraten, ein Kind in die Welt setzen, deine Ersparnisse ausgeben, eine gefährliche Sportart machen, in der Fremdenlegion anheuern, in eine Sekte gehen oder ne Menge ungute Substanzen konsumieren.

Also warum sollte das ausgerechnet bei Menschen passieren, die eine andere Wahrnehmung von Geschlecht haben und ihr Leben deshalb anders origanisieren? Mit oder ohne HET oder anderen Massnahmen?

Woher käme das Recht dazu und wo ist der Unterschied zum früheren „Homosexuelle Menschen sind psychisch krank und müssen deshalb zwangstherapiert werden“?

Wir haben die Freiheit, auch „Dummheiten“ zu machen. Fehlentscheidungen zu treffen. Viele davon erzeugen „unter Umständen irreversible Veränderungen“; nicht nur körperlich. Diese Freiheit ist elementar wichtig für Artikel 2(1) GG: “ Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

In einer idealen Welt gäbe es zum einen leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Information und Aufklärung zu allen Themen im Vorfeld, und zum anderen ebenso leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Hilfe und Beratung, wenn was schief geht.

In der Realität gilt sowohl für seelische Probleme, als auch für TIN*, dass weder das Vorfeld noch die Krisen von „den Profis“ ausreichend abgedeckt wird. Der Großteil wird von ehrenamtlichen und Selbsthilfe geleistet, die häufig genug „die Profis“ auf den aktuellen Stand des Wissens und der best practices einnorden müssen.

Thema Umgang mit Vielfalt

Ich erlebe immer wieder, dass Menschen anderer Leute (Selbst)Wahrnehmung sofort und ausschliesslich auf sich anwenden, ihre eigene begrenzte Weltsicht und internen Bewertungen, und reflexartig entscheiden „oh wie schlimm, da muss eins doch was gegen tun“. Nein. Die hauptsächliche Frage ist, ob und wie die Person mit sich klar kommt. Geht es ihr gut bzw sogar besser oder empfindet sie einen Leidensdruck? (DSM: B-Kriterien)

Gute Therapeutys lernen ziemlich früh, ihren Behandlungsauftrag zu definieren. Erste Frage: Habe ich überhaupt einen? Hat die Person mich explizit gebeten, mich mit ihr und dem Thema zu beschäftigen? Nächste Frage: Was möchte diese Person verändern und habe ich möglicherweise geeignete Vorschläge und Methoden anzubieten?

Alles andere ist übergriffig und unprofessionell. Sogar möglicherweise ein Behandlungsfehler. Auch wenn es in den Fingern juckt und es doch – nach den eigenen Vorstellungen – da diese behandlungsbedürftige Baustelle gibt und so und so viel besser wäre.

Wir sollten dieses Prinzip mMn auch als nicht-Profis anwenden. Menschen sind ungeheuer vielfältig und haben unglaublich vielfältige und persönliche Weisen, mit ihrer Biografie, ihrer Umgebung und sich selbst klar zu kommen. Infinite Diversity in Infinite Combinations. Wir können ein- oder zweimal einen Vorschlag machen oder Beispiel geben, aber einmischen, unverlangte Diagnosen stellen oder Therapiebedürftigkeit zu attestieren, ohne die Menschen genau zu kennen und ohne gefragt worden zu sein ist, wie gesagt, übergriffig. Auch als nicht-Profi.

Wenn wir etwas nicht so richtig verstehen, steht vor der Beurteilung die Pflicht zur Selbstaufklärung. Bis das Thema ausreichend verstanden ist mit Fakten, Hintergründen, Motiven und erlebter Realität. Also erst mal eine Menge Fragen.

Manchmal stellen wir fest, dass bestimmte Konzepte auch nach vielen Fragen einfach ausserhalb unseres Horizonts bleiben. Geht mir mit der Stringtheorie so. Ich weiss nur, dass es sie gibt und ein paar Faktensplitter. Da enthalte ich mich jeglicher Meinung und stelle höchstens ein paar Fragen.

Manche Dinge sind so komplex und veränderlich, dass es unglaubliche viel Zeit und Aufwand braucht, sie qualifiziert zu erschliessen. Geht mir mit „dem Nah-Ost-Konflikt“ so. Das lasse ich an mir vorbei gehen. Ich muss keine Meinung haben und es ist mir den Aufwand nicht wert, mich so aufzuschlauen, dass ich tatsächlich mitreden könnte. Kurzgeschlossene Stammtischmeinunngen sind aber mE von übel.

Manches können wir verstehen, nachvollziehen, emulieren, auch wenn wir es innerlich nicht nachfühlen können; höchstens mit Analogien. Geht mir mit Religiosität so – und mit (binärem) Geschlechtsempfinden. Hier kann ich sachlich diskutieren, weil ich viel Zeugs gelesen habe. Hier traue ich mir eine Meinung zu, soweit mich das Thema persönlich betrifft. Den emotionalen Teil, den ich nicht nachempfinden kann, lasse ich bei den anderen. Ich kann ihn für sie wertschätzen, aber jedes Urteil meinerseits wäre unangebracht.

In Kurzform: Äussere dich nur zu dem, was du wirklich verstehst und zwar auf dem Level deines Verständnisses. Ansonsten höchstens Fragen, Offenheit und Lernbereitschaft.

Thema Gendefluidität und andere Formen von Nichtbinarität

Es gibt unzählige Versuche, Geschlechtsidentitäten zu systematisieren. Das einfachste ist noch das Gender Unicorn oder auch die Gender Bread Person. Die können zum Beispiel schon mal die Unterscheidung zwischen Identität, Präsentation, körperlichem und Amtsgeschlecht. Abgegrenzt von der sexuellen und romantischen Orientierung.

Das ist aber für einige Menschen nicht ausreichend. Allein die Frage, ob, wie und was überhaupt Menschen als „Geschlecht“ empfinden ist unglaublich komplex. Es spielt interne und externe Körperwahrnehmung rein, emotionale Grundstimmung, situationsabhängiges Verhalten, erlernte und erlebte Muster und die mit ihnen verknüpften positiven und negativen Gefühle, und das alles komplex verwoben mit gesellschaftlichen Konventionen, die alles und alle binär vergeschlechtlichen.

Geschlecht als nur männlich oder nur weiblich ist vollkommen unzureichend für Menschen, die sich nicht eindeutig dem einen oder anderen zuordnen können. Natürlich beschäftigen sie sich dann damit, denn alles, was emotional nicht passt bzw unzufrieden macht, wird dadurch immens wichtig. Geschlecht, Job, Familie, Beziehung, Sex.

Es ist vergleichsweise sehr einfach, in einem binären Geschlecht zu leben, trans oder nicht. Die Welt ist darauf eingerichtet, du kannst dich darin bewegen wie ein Fisch im Wasser. Es gibt unzählige Vorbilder und Vorgaben, Alltagsrituale, Strukturen und Räume, die entsprechend gelabelt sind. Die trans Hauptfrage ist, ab wann du dich traust, die andere zu benutzen und ob das klappt.

Wenn aber beim besten Willen weder das eine noch das andere passt, dann bist du erst mal auf dich selbst geworfen, dich zu beobachten, zu finden, irgendwie zu positionieren. Sprich: Im Gegensatz zu gender-binären Personen müssen wir nichtbinären an dieser Stelle sehr viel stärker über uns nachdenken. Deshalb kommen wir auch zu vielen individuellen Erkenntnissen, die binäre Menschen gar nicht benötigen.

Einige stellen fest, dass die geschlechtliche Empfindung zwischen und_oder ausserhalb von männlich und weiblich fluktuiert; genderfluid. Einige bemerken, dass die Intensität stark schwankt, also auch die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung; genderflux. Einige finden keinen Bezug zu männlich/weiblich sondern verknüpfen ihr Gender anderswo. Zum Beispiel autigender, weil ihr neurodiverses Gehirn die Welt ganz anders wahrnimmt.

Diese Wahrnehmungen sind erst mal valide, Punkt. Es ist die ihnen bestmögliche Beschreibung dessen, was ihnen die Welt als geschlechtliche Positionierung abverlangt. Wenn cis und_oder binäre Menschen damit nichts anfangen können: Deren Problem. Deshalb sind sie noch lange nicht pathologisch oder Folge irgendwelcher behandlungsbedürftiger Störungen.

Binäre Geschlechtsidentität ist ja nun auch nicht besser erklärbar. Nur häufiger und vor allem weniger hinterfragt. Aber bisher ist noch jedes Gespräch ausgehend von der Frage „wie stellst du denn fest, dass du [dein Gender] bist?“ über biologisches und Stereotypen schlussendlich bei „ich weiss das eben“ gelandet. Also bitte nicht so überheblich.

Wer es nicht nachvollziehen kann: Es gibt Lesestoff und Möglichkeiten zu fragen. Aber Be- und Verurteilungen dürfen wir uns verbitten.

Thema plurale Menschen

Ganz wichtig: Genderfluidität und Pluralität haben erst mal nichts miteinander zu tun. Zwei ganz verschiedene Konzepte, die zufällig gemeinsam auftreten können.

Ich kenne ein paar Systeme. Also mehrere Persönlichkeiten, die sich einen Kopf und Körper teilen. Und klar, der erste Impuls ist Schizophrenie, multiple bzw dissoziative Persönlichkeitsstörung, usw.

Zum einen: In von westlicher Psychologie der Neuzeit unbelasteten Gesellschaften wird/wurde das teilweise ganz anders betrachtet. Nicht als Problem, sondern als Gabe und Bereicherung. Das macht das Leben dieser Systeme erstaunlich viel einfacher, wer hätte das gedacht *SarkasmusFähnchen*.

Heisst: Nicht alle Systeme sind behandlungsbedürftig und vor allem ist nicht „Integration“ oder die Fabrikation einer Mono-Persönlichkeit automatisch das Ziel. Erfreulicherweise kommt die aktuelle Psychologie da langsam an. Die Hauptaufgabe ist auch hier wieder Klarkommen mit sich und der Aussenwelt.

Die praktischen Fragen mal beiseite gelassen, sind Systeme faszinierend vielfältig, weil sie in vielen Aspekten variieren können. Geschlechtlich sowieso. Auch in der Orientierung. Sogar körperlich. Es gibt Berichte über Unverträglichkeiten und variable Sehstärke. Unterschiedliche Handschrift und Sprache (im Sinne von Wortwahl, Stil, Stimme, Betonung) sind häufig.

Ja, bei vielen können Traumata in der Vergangenheit gefunden werden. Aber weder sind die zwangsläufig vorhanden, noch zwangsläufig ursächlich.

Die Persönlichkeiten können sich auch „einfach so“ entwickeln. Es ist einfach etwas stärker und etwas mehr voneinander getrennt, als bei uns Monopersonen (=scheinbar nur eine Persönlichkeit). Aber wir haben auch häufig im Job, in der Familie, im Verein, im Urlaub ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, Gefühlslagen, Auftreten usw. Viele von uns entwickeln Persönlichkeits-(An)Teile, die stark unterschiedlich und sogar widersprüchlich sind, also eigentlich schon Systeme. Nur eben nicht so ausgeprägt.

Viele von uns (Monos) reagieren reflexartig mit Anteilen, die uns gar nicht so angenehm sind, sondern Verhaltensmuster, die irgendwann mal nützlich und sinnvoll waren, heute aber eher nicht mehr. So verschieden ist das gar nicht.

Natürlich haben etliche Systeme ganz typische Probleme. Immerhin ist das eine Ein-Körper-WG, aus der eins nicht ausziehen kann. Auch eine Ein-Hirn-WG, was bedeutet, dass manchmal Persönlichkeiten nicht mitkriegen, was andere tun, denken, wollen.

Das sind aber praktische Probleme, die auch praktisch gelöst werden können. Systeme haben nicht zwangsläufig einen Leidensdruck oder wollen Teile von ihnen loswerden. Vielfach erfüllen einige auch Aufgaben, die andere oder eine „intergrierte“ Persönlichkeit nicht könnten. Oder sie bieten Empfindungen, die nur innerhalb dieser Persönlichkeit möglich sind.

Kurz: Systeme können sich als bereichert empfinden. Auch wenn es uns Monos schwer fällt, das nachzuvollziehen. Heck, ich hab schon Schwierigkeiten eine physische WG als Bereicherung zu empfinden! Aber das ist unser Problem. Nicht per se behandlungsbedürftig.


Gesamt-tl;dr: Nicht so voreilig mit Diagnosen und Behandlungsbedarf. Nicht so übergriffig mit Ratschlägen und Meinungen. Auch wenn die eigenen Erlebnisse belasten und eins andere schützen und bewahren möchte. Die meisten Menschen wissen, was sie wollen und brauchen. Und wenn nicht, dann sind sie in der Regel auf der Suche und brauchen keine Bevormundung. Die meisten Probleme sind nicht so dramatisch, wie sie aussehen. Und die meisten Lösungen sind nicht so einfach, wie sie scheinen.


(1) Disclaimer: Meine Erfahrung beruht auf Beratung und Moderation, die ich in mehreren SHG für trans und nichtbinäre Menschen mache, ausserdem in Online-Selbsthilfeforen. Ich habe etliche Menschen in der Transition begleitet, die von einer dreistelligen Zahl beobachtet und bin in einigen Fachgruppen zu trans Themen. Ausserdem lese ich unheimlich gerne Studien und Fachbücher zum Thema.

(2) Zwei Drittel der trans Bevölkerung sieht sich binär trans. Die meisten möchten eine HET wenigstens beginnen und dann sehen. Ein Drittel ist nichtbinär, da wird häufig sehr lange gehadert, welche Effekte eins eigentlich will und braucht und ob und wie das hormonell oder anders geht.

(3) Ich habe ein paar Konferenzen für Therapeutys erlebt, und selbst bei den speziell auf TIN* ausgerichteten war das Level der „Profis“ an Unverständnis, Vorurteilen und auf cis/bin/het basierenden Projektionen in der Regeln unglaublich fern von der Realität ihrer Klientys.